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Der gläserne Wald

Der gläserne Wald

Titel: Der gläserne Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinald Koch
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war der Oberste Rat noch nicht aller Kommunikationsmöglichkeiten beraubt: Durch eine kraftlose Bewegung der Schultern brachte er die Thermodecke ins Rutschen, so dass sein ausgezehrter Oberkörper sichtbar wurde, und streckte dem Arzt den Arm entgegen.
    Nun, da er die braun-blau verfärbte, zerstochene Armvene sah, begriff auch Levro. Plötzlich erkannte er die Symptome des herannahenden Todes, den aufzuhalten er offensichtlich herbeigerufen worden war. Er sah aber auch, dass mit den üblichen Mitteln nur noch wenig zu erreichen sein würde, wozu man ihn ja auch gewiss nicht geholt hatte. Das übliche und sonst mögliche war wohl ohnehin schon unternommen worden.
    Einen Moment elektrisierte ihn der Gedanke, dass der Oberste Rat mehr Furcht haben mochte als er, wenn er bereit war, zu dieser letzten Möglichkeit zu greifen. Und da fühlte er, wie von seinem Magen ein Wonnegefühl ausging, als habe er sich mit einem fetten, üppigen Mahl gefüllt. Zufriedenheit überkam Levro. Empfand also auch dieser, der die Macht bis zur Neige kosten durfte, die gleiche Furcht vor dem Tod. Gierig beugte er sich über den Sessel des Alten, um den Greis ganz aus der Nähe zu betrachten.
    Er sah sich schon bei der Arbeit, denn nun wusste er, zu welchem einzigen Zweck man ihn hatte rufen lassen. Doch dafür sollte man ihm zahlen!
    Mit einigen raschen Griffen vergewisserte er sich, dass für das Leben des Obersten Rates keine akute Gefahr bestand. Es war zwar nur noch ein dünnes Rinnsal, gleichwohl floss es noch stetig. Levro glaubte sicher sein zu dürfen, dass die Leibärzte den Greis mit allem wohl versehen hatten, bevor sie ihn zu diesem Gespräch allein ließen.
    Er wandte sich zum Lavoir, füllte einen Becher halb mit Wasser und setzte ihn dem Obersten Rat vorsichtig an die Lippen. Da dieser vorhin vergeblich zu sprechen versucht hatte, meinte er, dieses Wagnis eingehen zu dürfen. Anscheinend hatte sich der Alte sogar noch stark genug gefühlt, ein Gespräch zu führen, ohne dabei fremder Hilfe zu bedürfen.
    Tatsächlich konnte der Oberste Rat noch schlucken, und es gelang ihm, Gaumen und Zunge zu befeuchten. Levro nahm es mit Befriedigung wahr, denn sprechen musste dieser lebende Leichnam, damit er ihn auspressen konnte.
    Freilich hatte der Arzt das Format eines Obersten Rates, der sich fast 65 Jahre in diesem Amt behauptet hatte, weit unterschätzt. Jedenfalls geschah etwas für Levro höchst Überraschendes, und das besonders darum, weil es so primitiv war: Der Alte beugte sich vor und krächzte: »Wache!«
    Sogleich glitten zwei Wände des Raums in den Fußboden, und Levro sah sich von etwa zwanzig Polizisten umgeben, die ihre Waffen auf ihn richteten. Diese Wendung raubte dem Arzt wiederum jeden Halt und stürzte ihn neuerlich in ohnmächtige Furcht. Halb vom Obersten Rat abgewandt, irrte sein Blick über die ausdruckslosen Gesichter der Polizisten, die anscheinend unter der Einwirkung hypnotischer Medikamente standen. Dann hörte er hinter sich die flüsternde Stimme des Obersten Rates, die sich selbst übertönend durch ganze Lautsprecherbatterien verstärkt wurde und keuchend, lispelnd fauchte: »Dieser Oberstarzt Levro ist auf der Stelle – wenn die Operation misslingt – hinzurichten! – Abtreten!«
    Nach diesen Worten stiegen die beiden Wände wieder vor den Polizeisoldaten in die Höhe und standen schließlich so ruhig und fest, als hätten sie sich nie bewegt.
    Ohne dazu aufgefordert worden zu sein, ließ sich Levro schwer auf den Hocker sinken, der seitlich an der Sessellehne angebaut war und wohl dazu diente, dem Pflegepersonal des Obersten Rates die Arbeit zu erleichtern. Mechanisch ergriff er den Becher und flößte dem Obersten Rat etwas Wasser ein; doch dieser nahm nur einen kleinen Schluck und hob dann matt abwehrend die Hand gegen den Becher.
    »Du hast gedacht, dass einmal auch die Stunde für den Mächtigen kommt!« wisperte der Alte, und Levro musste sich noch weiter vorbeugen, um ihn zu verstehen. Diese Haltung war sehr unbequem, denn sein fetter Bauch drückte nach oben auf die Lunge und machte ihn kurzatmig.
    »Ich habe mein ganzes Leben nur auf ein Ziel hingearbeitet und – vielleicht fällt auf Ne Par in diesem Augenblick die Entscheidung; bis ich aber diese Entscheidung erfahre, muss ich leben! Verhilf mir dazu … sonst wirst du noch vor mir sterben!«
    Der Alte, dessen Kraft beim Sprechen sichtlich zugenommen hatte, stieß die letzten Sätze mit drohender Schärfe hervor. Levro aber kannte die

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