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Der gläserne Wald

Der gläserne Wald

Titel: Der gläserne Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinald Koch
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Zenturio nicht erkennen konnte, ein wie großes Stück der Röhre eingebrochen war. Keinesfalls konnten alle seine Leute schon in der Röhre gewesen sein, als ihn der Schlag betäubte. Vielleicht würde es einigen doch gelingen, sich zum Treffpunkt durchzuschlagen. Aber er bezweifelte, ob das Haus, durch das sie eingedrungen waren, diese Erschütterung überstanden hatte. Er kannte die Wirkung der Waffen der Adaporianer nun gut genug. Die Verwüstung an der Oberfläche musste noch größer sein als hier unten.
    Er ließ die Leiche des Soldaten hinter sich und kroch weiter. Da blitzte es wieder fern im Fackellicht wie in dem Moment vor dem Einschlag. Irgendein metallischer Gegenstand lag dort, und in höchster Eile kroch tha Barga darauf zu. Das mochte im Namen des dreieinigen Raums alles Mögliche sein, aber es konnte noch nicht lange hier liegen, sonst hätte es das Licht nicht so hell zurückgeworfen.
    Tha Barga stieß einen Freudenschrei aus, als er die kleine silberne Peitsche erkannte, die Tolt immer getragen hatte. Der Kleine war also hier gewesen! Mit einemmal war der Hass, den er noch eben gegen den Jungen gehegt hatte, vergessen.
    Er nahm die Peitsche, steckte sie in seinen Gürtel und kroch weiter. Der Kanal wollte kein Ende nehmen, aber endlich gelangte er an eine Abzweigung. Die Röhre mündete in einen großen, hoch gewölbten Kanal, der zum Meer führen musste. Tha Barga richtete sich auf, und nach kurzer Überlegung folgte er dem Strom der Abwässer zum Meer.
    Trotz seiner schmerzenden, zerschundenen Glieder zwang er sich zu rennen. Eines Tages werde ich wirklich sein Kaptin sein, redete er sich zu. Es ist meine Pflicht, für ihn zu leben und zu sterben und Schmerzen zu leiden. Doch nachdem sich seine Beine wieder ans Laufen gewöhnt hatten, ließen die Schmerzen nach.
    Nach einigen hundert Metern fand er ein schmutziges Bündel zusammengekrümmt am Boden liegen. Es war Tolt. Er schlief.
     
    Der Oberste Rat starrte mit greisenhaft abwesendem Blick in das kalkweiße, von Schweißtropfen und Angst entstellte Gesicht des Oberstarztes. In der vom Alter zerfaserten und abgeblassten Farbe der Iris lag etwas eisig Abweisendes, das den Arzt gleichsam hypnotisierte und seiner letzten psychischen Widerstandskraft beraubte. Hilflos schwankte er zwischen immer wieder aufwallender Panik und trostloser Ergebenheit, mühte sich dabei, wenigstens dieser entsetzlichen Schweißausbrüche Herr zu werden; doch tat er auch dies nur im Bewusstsein, sich vergeblich anzustrengen.
    Wäre Levro mehr Arzt als Chef des Exobiologischen Instituts gewesen und nicht so eingemauert in Fett und Angst, hätte er über seine psychische und physische Not hinausreichen können, wäre er nach einem einzigen Blick sicher gewesen, dass er hier nicht vor dem Obersten Rat, sondern vor einem Patienten stand. Der Oberkörper des alten Mannes war nur locker in eine Thermodecke gehüllt, denn die Intervalle zwischen den lebensnotwendigen Injektionen verkürzten sich rapide, Infusionen wurden immer häufiger nötig und langwieriger, so dass keine Zeit zum Aus- oder Ankleiden mehr blieb, und die Prozedur hätte den Obersten Rat über Gebühr angestrengt.
    Schon seit fast zwei Tagen hatte der Oberste Rat keinerlei Amtsgeschäfte mehr wahrnehmen können, denn die Erhaltung seines Lebens beanspruchte seine gesamte Zeit und Kraft. Es war soweit. Ein längeres Zögern und Abwarten würde seine Ausgangsposition nur verschlechtern, und der augenblickliche Zustand seines Körpers ließ ihm weder Hoffnung auf Besserung noch irgendwelche Bewegungsfreiheit, deren er – zumindest in gewissen Grenzen – noch immer bedurfte.
    Es war spät geworden, … aber nicht zu spät – wie sich der alte Mann immer wieder versicherte. Ein Leben zu verlängern, gab es Möglichkeiten genug. Nur ein paar Tage, vielleicht Stunden brauchte er noch. Bis dahin musste sich alles entschieden haben.
    Mit der pelzig trockenen Zunge versuchte er am ausgedörrten Gaumen Speichel zu sammeln, denn er musste noch einmal reden. Aber die Speicheldrüsen waren versiegt, er schluckte nur trocken, öffnete den Mund vergebens, schloss ihn wieder bis auf einen schmalen schwarzen Spalt und klammerte sich mit dem Blick seiner fischlaichfarbenen Augen an Levro. Hilfeflehend, wie er wohl meinte, doch versetzte er den Arzt in solche Furcht, dass der bis ins innerste Fett erzitterte.
    Von sich aus hätte Levro den Patienten sterben lassen, aus Angst unfähig, den Moribunden zu erkennen; allerdings

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