Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
Töchtern verloren und es sei ihm egal gewesen, wen sie geheiratet hatten. Es wurde allerdings auch gemunkelt, dass sie allein deswegen keine bessere Partie gemacht hatten, weil kein Geld da gewesen war. In den aristokratischen Kreisen, in denen die de Vries und ihresgleichen sich bewegten und heirateten, war die Mitgift einer Braut fast so wichtig wie ihre Herkunft.
Jay war ernster als Greg; dunkelhaarig, groß, hager und sportlich, mit einer ruhigen, gemessenen Art zu reden, und einem leicht spöttischen Lächeln, bei dem Amber oft gerne nach Skizzenblock und Kohle gegriffen hätte, um es einzufangen.
Doch jetzt lächelte Jay nicht. »Das hätte mir nicht zugestanden«, antwortete er ruhig. »Es tut mir wirklich sehr leid, aber vielleicht wird es gar nicht so schlimm, wie du befürchtest.«
»Du meinst, dass kein Adeliger mich heiraten will und dass ich abgewiesen werde, so wie dein Großvater meine Großmutter abgewiesen hat?«, erwiderte Amber bitter.
Sie hatte die alte Geschichte also endlich erfahren. Jay hatte sich schon gefragt, wann es so weit wäre. Schließlich war sie in der Gegend allgemein bekannt. Seine Cousine Cassandra hatte großen Spaß daran gehabt, ihn damit zu unterhalten, als sie sie von den Fitton Leghs gehört hatte, ohne zu wissen, dass er sie bereits kannte, doch Cassandra hatte den brüchigen Stolz der de Vries geerbt, den er persönlich verschroben und destruktiv fand.
Jay legte Amber die Hand auf den Arm, doch sie schüttelte ihn ab.
Amber lief die Treppe hinauf und den Flur hinunter und suchte Zuflucht in ihrem Schlafzimmer. Ihre Großmutter mochte es als Bestrafung betrachten, sie auf ihr Zimmer zu verbannen, doch Amber zog es vor, mit ihrer Verzweiflung allein zu sein.
Sie erstarrte, als sie ein kurzes Klopfen an der Tür hörte, entspannte sich jedoch, als Mary, das Stubenmädchen, hereinkam. Mary war fünfundzwanzig und mit einem Verkäufer in einem Lebensmittelladen in Macclesfield liiert. Sie besaß eine quirlige Persönlichkeit und ein warmes Lächeln, doch als sie jetzt zum Tisch ging, wich sie Ambers Blick aus. »Die Herrin sagt, ich soll Ihre Malsachen entfernen, Miss Amber«, sagte sie entschuldigend.
Ambers Gesicht brannte heiß vor Demütigung und Schmerz. Ihre Großmutter hatte sicher erraten, dass sie Trost im Zeichnen suchen würde. Na, wenn sie dachte, sie würde sich entschuldigen, um die Sachen wiederzukriegen, dann hatte sie sich aber getäuscht!
Es wurde bereits dunkel, als Jay in dem Kombiwagen, den Blanche Pickford ihm als ihrem Gutsverwalter zur Verfügung gestellt hatte, den zerfurchten Weg nach Felton Priory nahm. Sie hatte ihm erklärt, er könne das Automobil »in gewissem Umfang für private Fahrten nutzen, da ich davon ausgehe, dass Sie sicher ab und an Ihren Großvater sehen wollen, der ja nicht in der Lage ist, Sie zu besuchen«.
War dies eine freundliche Geste gewesen oder ein unfreundlicher Hinweis auf die Tatsache, dass Barrant an den Rollstuhl gefesselt war? Jay wusste, was sein Großvater davon gehalten hätte.
Die Dämmerung bemäntelte die Schäbigkeit des Hauses und der umliegenden Parklandschaft. Anders als Denham Place konnte man Felton Priory nicht als architektonisches Juwel beschreiben, denn es war ein planloses Durcheinander verschiedener Perioden und persönlicher Stilrichtungen, das vom fünften Viscount noch mit einer neuen, pseudogotischen Fassade von herausragender Hässlichkeit versehen worden war.
Jay parkte den Kombiwagen auf dem gekiesten Vorhof und nahm mit geschmeidigen Schritten die Stufen zu dem wuchtigen Säulenvorbau.
Der Butler seines Großvaters öffnete ihm die Tür. Jay hatte seinen Besuch telefonisch angekündigt, denn er wusste, dass es Bates, der gut zehn Jahre älter war als sein Großvater und zudem unter Rheuma litt, immer schwerer fiel, die Entfernung von dem warmen Anrichteraum zum Haupteingang zurückzulegen.
»Guten Abend, Master Jay«, hieß Bates ihn willkommen und nahm Jays Staubmantel, Mütze und Schal.
»Guten Abend, Bates«, antwortete Jay. »Was macht das Rheuma?«
»Nicht allzu schlimm, danke. Aber Ihr Großvater hatte zwei schlechte Tage, fürchte ich.«
»Vielen Dank, dass Sie mich vorwarnen. Seine Beine quälen ihn wohl wieder, was?«
»Leider ja.«
Barrant waren zwar beide Beine amputiert worden, doch er litt unter heftigen Phantomschmerzen. Das von Dr. Brookes verordnete Morphium war manchmal das Einzige, was noch half.
Jays Großvater hatte sich vehement dagegen
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