Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
nicht kommen würden«, hörte Amber ihn zu Mary Bromley Davenport sagen, »aber sie wollte das nicht gelten lassen und hat darauf bestanden, dass ich allein komme.«
Den Grund dafür glaubte Amber zu kennen. Cassandra wollte sie beide hierhaben, um aus ihren Ängsten und Befürchtungen die größtmögliche persönliche Befriedigung ziehen zu können.
Nie war Amber ein Abend endloser vorgekommen. Der Landadel aus Cheshire war äußerst patriotisch eingestellt, und so drehte sich die Unterhaltung hauptsächlich um Edwards schockierende Abdankung, ihre Bewunderung für den neuen König und ihre Missbilligung für Deutschlands aggressive Politik. Bisher war es Amber gelungen, den Austausch der allseits vorgetragenen konservativen Meinungen zu überstehen, indem sie sich entschlossen an leichtere Themen hielt. Noch schmerzhafter als die über ihr schwebende Drohung, Cassandra könnte verraten, was sie gesehen hatte, war die Tatsache, dass sie sich im selben Raum aufhielt wie Jay: Sie durfte seiner Stimme lauschen, ihn sogar ansehen, doch es war unmöglich, ein vertrauliches Gespräch mit ihm zu führen oder ihm in die Augen zu blicken – und dabei gab es so viel, was sie dort sehnlichst zu sehen wünschte.
Stattdessen musste sie Cassandras Fragen beantworten und die vielen Hiebe parieren, die an diesem Abend auf sie einprasselten.
Nun atmete sie tief durch und sagte leichthin: »Cassandra, ich versichere Ihnen, dass es nichts Provinzielleres gibt als die Londoner Gesellschaft.«
Die übrigen Gäste stießen in einem kollektiven Seufzer der Anerkennung die Luft aus, doch Cassandra war noch nicht bereit aufzugeben.
»Greg, Sie beneiden Ihre Cousine doch sicher um ihr aufregendes Leben«, beharrte sie und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Greg. Amber wusste, dass sie unmöglich von dem Testament erfahren haben konnte, was natürlich nicht verhinderte, dass ihre Frage die Wirkung eines brennenden Streichholzes entfaltete, das man in ein Pulverfass warf.
Greg reagierte genau so, wie Amber erwartete, und erklärte zornig: »Ich beneide sie allerdings, jetzt, wo ich herausgefunden habe, dass unsere Großmutter mich enterben und alles ihr vermachen will.«
Er hatte den ganzen Abend reichlich getrunken; der Lakai der Fitton Leghs hatte ihm nach Ambers Geschmack viel zu bereitwillig immer wieder nachgeschenkt. In ihrer Jugend hätte sie sich so geschämt, dass sie am liebsten davongelaufen wäre, doch die Ehe hatte sie gelehrt, wie man Contenance bewahrte und sich in Gesellschaft benahm, daher blieb sie, wo sie war, obwohl ihr nichts einfiel, was sie auf Gregs Ausbruch hätte sagen können.
»Sie sind wahrlich vom Schicksal begünstigt, Amber«, sagte Cassandra lächelnd. »Aber ist es nicht so, dass diejenigen, die schon viel besitzen, dazu neigen, sich noch mehr anzueignen? Man beobachtet es ja so oft: das verzogene Kind, das noch mehr Aufmerksamkeit von der Kinderfrau fordert, die unersättliche Person, die sich nicht mit einem Ehegatten zufriedengibt, sondern auch noch von anderen bewundert werden möchte, vor allem, wenn diese anderen ebenfalls verheiratet sind.«
Die Worte waren leichthin in den Raum geworfen, doch ihre Bedeutung und ihre Bosheit waren unverkennbar. Greg runzelte die Stirn, als rätselte er noch, was die Bemerkung zu bedeuten habe. Die anderen Gäste schauten je nach Wesensart neugierig oder unbehaglich drein. Für Amber war klar, dass Cassandra sich sowohl auf die Vergangenheit und Gregs Affäre mit Caroline bezog als auch auf den Umstand, dass sie Amber und Jay in inniger Umarmung erwischt hatte. Ambers Magen zog sich vor Sorge zusammen. Genau davor hatte sie sich den ganzen Abend gefürchtet.
Cassandra genoss die Situation ungemein. Es war natürlich bedauerlich, dass Lydia lieber zu Hause geblieben war und schmollte, nur weil ihr nicht gefallen hatte, wie Cassandra sie am vorigen Nachmittag aufgezogen hatte und ihr nicht hatte sagen wollen, dass sie sie liebte.
Greg, der sein eben aufgefülltes Glas schon wieder geleert hatte, stellte es ungeschickt auf dem Tisch ab und brach die Stille, die auf Cassandras Bemerkung gefolgt war, mit den trotzigen Worten: »Zu begünstigt, wenn ihr mich fragt. Ist doch nicht recht, dass Amber kriegt, was eigentlich mir zusteht. Das ist nicht richtig, hört ihr?«, fuhr er auf, kam schwankend auf die Füße und schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Na, na, alter Junge, etwas weniger fortissimo, was?«, meinte John Bromley Davenport, worauf Greg sich wieder auf
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