Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
den Stuhl sinken ließ.
»Etwas weniger portissimo wäre vielleicht sogar noch ratsamer«, flüsterte ein Dame sotto voce , aber immer noch so laut, dass Amber es verstehen konnte.
»Es ist nicht recht«, wiederholte Greg, hickste einmal und begann dann laut zu weinen. Er legte den Kopf auf den Tisch, und sein ganzer Leib erbebte vor Schluchzen.
Amber wusste nicht, was sie getan hätte, wenn Jay nicht ruhig aufgestanden und zu Greg hinübergegangen wäre, ihm den Arm um die Schultern gelegt und sanft gesagt hätte: »Komm mit, mein Junge, sehen wir zu, dass wir dich nach Hause bringen.«
Verwirrt und schwerfällig ließ Greg sich von Jay aus dem Zimmer führen.
»Tut mir leid, Cassandra, aber ich glaube, ich gehe jetzt auch besser«, entschuldigte sich Amber.
»Nun ja, natürlich, mir ist vollkommen klar, warum Sie gehen möchten.«
Oberflächlich betrachtet, klangen Cassandras Worte durchaus harmlos, doch Amber glaubte, sie habe sie aus Bosheit gewählt. Welche unangenehmen Seitenhiebe Cassandra wohl noch für sie in petto hatte? In ihrer Nähe würde sie nie wieder Frieden finden, das wusste Amber.
Amber hatte vereinbart, dass sie in Denham Place anrufen würden, wenn sie abgeholt werden wollten, doch als sie Jay und Greg in der Halle einholte, meinte Jay entschieden: »Ich glaube, es wäre besser, wenn ich Greg jetzt gleich nach Hause fahre. Er ist ziemlich mitgenommen.«
»Wollt gar nicht herkommen. Kommt mir irgendwie nicht richtig vor, wo Caroline doch nicht mehr da ist«, erklärte Greg betrunken.
Amber stiegen Tränen des Mitleids in die Augen.
»Nein, wohl nicht, alter Junge«, stimmte Jay ihm zu.
»Der Knabe ist mein Sohn, weißt du.«
Amber blickte Jay an. Taktvoll enthielt er sich jeder Bemerkung, obwohl Greg zu betrunken war, um zu wissen, was er sagte.
»Ich bleibe hier und rufe Harris«, sagte Amber.
»Wie du willst, aber im Wagen ist noch Platz für dich, falls du mit uns zurückfahren möchtest.«
»Ich habe Großmutter gesagt, mir wäre es lieber, sie würde ihr Testament nicht ändern, und dass ich es nicht richtig finde.« Warum um alles in der Welt hatte sie das gesagt? »Tut mir leid«, fügte sie hilflos hinzu. »Mir tut das alles furchtbar leid.«
»Amber …«
»Will nicht mehr hierbleiben. Ich geh jetzt«, verkündete Greg und schwankte zur Tür.
»Moment, Greg, wir kommen auch mit.« Jay eilte Greg hinterher. Amber zögerte kurz und lief den beiden dann nach.
40
Sommer 1937, Südfrankreich
»Meine Lieben, endlich seid ihr da. Wie war die Reise?«
Amber ergab sich Beths pudriger, rosenduftender Umarmung. Sie fand, dass die Freundin ihrer Mutter immer ähnlicher wurde. Sie und Alistair hatten inzwischen vier Kinder, zwei Jungen und zwei Mädchen, und Beth war auf eine Weise mollig und matronenhaft geworden, die ihr gut zu Gesicht stand.
»Erfrischend ist wahrscheinlich das richtige Wort«, sagte Amber lachend, als Beth sie in den Salon scheuchte und nach Tee läutete.
Robert hatte darauf bestanden, dass sie von England hinunter nach St. Tropez segelten, und auch wenn keiner von ihnen seekrank geworden war, war das Meer doch zuweilen rauer gewesen, als es Amber lieb gewesen war.
Robert war schon mit Alistair verschwunden, und Beths Kindermädchen hatte Luc mit hinauf ins Kinderzimmer genommen, um seine Freundschaft mit Beths und Alistairs Kindern zu erneuern.
»Also, jetzt bist du hier, und ich habe dir so viel zu erzählen«, meinte Beth, nachdem sie Tee eingeschenkt hatte.
Der Salon der Villa hatte hohe Fenstertüren, die sich auf eine Terrasse öffneten, von der man einen phantastischen Blick über das Mittelmeer hatte. Die leichte Brise, die durch die offenen Türen hereinwehte, trug den vertrauten Duft nach Meer, Hitze und Lavendel herein, der für Amber stets zu Südfrankreich gehörte. Er weckte viele Erinnerungen: ihre Einkaufstour nach Paris, die Zugreise, auf der sie vor Aufregung kaum hatte schlafen können, ihr erster Blick auf die Villa, ihr erster Blick auf Jean-Philippe. Genug des Schwelgens in Erinnerungen. Es war an der Zeit, sie zu verbannen. Amber strich eine kleine Falte in ihrem weißen Seidenrock von Chanel glatt.
»Ich freue mich so, dass es Mummy gelungen ist, Henry dazu zu überreden, den Sommer bei uns zu verbringen. Nach der Enttäuschung darüber, dass das neue Baby wieder ein Mädchen war, haben wir uns alle große Sorgen um ihn gemacht.«
Bei der Erwähnung des Namens von Beths Bruder erstarrte Amber, sagte jedoch nichts. Sie
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