Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
hatte ihrer Freundin natürlich nie etwas von Henrys Verhalten gesagt. Ambers und Henrys Wege hatten sich in den letzten Jahren kaum gekreuzt, und bei den seltenen Gelegenheiten, da sie sich doch begegnet waren, hatte Amber versucht, einen weiten Bogen um Henry zu machen, erst recht nach der Party, wo er sich ihr gegenüber so unmöglich benommen hatte.
»Wir müssen besonders nett zu ihm sein, Amber, und ihn aufmuntern.«
Ist ja schön und gut, hätte Amber am liebsten gesagt, aber was ist mit seiner Frau? Wie fühlt sie sich wohl bei dem Vorwurf, sie könnte keinen Erben produzieren? Doch hatte es keinen Sinn, ihren Widerwillen gegen Henry an der armen Beth auszulassen, die ihren Bruder abgöttisch liebte.
»Alle sind dieses Jahr hier, besonders die Deutschen«, fuhr Beth fort. »Sie sind überall und feiern die herrlichsten Partys. Henry meint, sie protzen zu viel herum. Besonders Bade-Gesellschaften sind bei ihnen der Hit – na ja, du weißt ja, wie sehr sie auf Körperertüchtigung und so weiter stehen.« Beth verzog das Gesicht. »Ich persönlich finde es sehr ermüdend, aber die Kinder lieben es natürlich. Dein Kleid ist wunderschön. Du hast solches Glück, dass du so schlank geblieben bist, Amber, aber nach vier Kindern …«
Amber trank ihren Tee und lauschte ihrer Freundin ergeben. Beth war noch nie leicht zu bremsen gewesen, wenn sie mal in Fahrt war. Es war schön, sich entspannen zu können, ohne sich darüber Gedanken machen zu müssen, dass Luc über Bord gehen oder Robert in eine seiner finsteren Stimmungen verfallen könnte – auch wenn diese Gott sei Dank nicht mehr so häufig auftraten wie früher. Er war wunderbar geduldig und verständnisvoll gewesen, als sie ihm erzählt hatte, wie besorgt sie über die Testamentsänderung ihrer Großmutter sei, hatte jedoch darauf beharrt, dass ihre Großmutter jedes Recht dazu habe und er voll und ganz verstehe, weshalb sie sich zu diesem Schritt gezwungen gesehen hätte. Das änderte allerdings nichts an der Tatsache, dass Greg immer noch sehr wütend war.
»Oh, ich hätte fast vergessen, dass wir letzte Woche in Mougins waren«, berichtete Beth gerade. »Alle sagen, dort müsste man hin, besonders da Picasso dort den Sommer verbringt, und du rätst nie, wen wir gesehen haben.«
»Picasso?«
»Nun ja, den auch, und die Fotografin, von der alle sagen, sie wäre seine Geliebte, Dora Soundso.«
»Dora Maar«, ergänzte Amber.
»Ja, richtig. Aber lass mich zum Punkt kommen. Ich wollte dir nicht von ihnen erzählen, sondern von Jean-Philippe, gut aussehend wie eh und je.«
Amber stellte behutsam Teetasse und Untertasse ab.
»Du erinnerst dich doch sicher an ihn, Amber?«, hakte Beth nach. »Der Künstler, der in dem Jahr, als wir mit Mummy hier waren, im Gartenhaus der Villa gewohnt hat. Ich fand ihn so romantisch, und ich war schrecklich eifersüchtig, als er dich bat, ihm Modell zu sitzen.«
»Ja, natürlich erinnere ich mich an ihn«, sagte Amber leise.
Jean-Philippe! Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie sie im Schoß verschränkte. Sie hätte nicht so schockiert sein dürfen. Südfrankreich war bei Künstlern schließlich ein beliebter Aufenthaltsort. Jean-Philippe und Henry, beide hier. Angst schoss ihr zitternd den Rücken hinunter. Sie musste sich keine Sorgen machen. Sie war jetzt eine verheiratete Frau. Robert war hier bei ihr, er würde sie beschützen. Er wusste alles über Jean-Philippe und über Henry. Abgesehen davon waren sie inzwischen alle älter. Sie hatte nicht besonders viel für Henry übrig, doch das hieß nicht, dass er nicht reifer geworden sein konnte. Er war jetzt ein verheirateter Mann und hatte Familie, es war doch sehr unwahrscheinlich, dass er seine unerwünschten Annäherungsversuche von damals wiederholen würde. Und Jean-Philippes Annäherungsversuche, wären die auch unerwünscht, falls er sie wiederholen würde? Wie eine Schlange wand sich die Frage um sie, liebkoste und verhöhnte sie, wie Jean-Phi lippe sie einst liebkost hatte.
»Zuerst hat er mich nicht erkannt, aber es ist natürlich auch einige Jahre her.«
Irgendwie gelang es Amber, ihre Gedanken von Jean-Philippe und der Vergangenheit zu lösen und in die Gegenwart zurückzukehren.
»Ja«, stimmte sie fröhlich zu. Einige Jahre? Sie wusste genau, wie viele – wie hätte es auch anders sein können, da sie doch den Beweis dafür in Gestalt von Luc vor sich hatte?
»Ich weiß noch, wie schockiert ich war, als ich erfuhr, dass er nicht Madames
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