Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
der junge Morgen in seiner unberührten Reinheit war ein ganz besonderer Anblick. Die Sonne war bereits aufgegangen und goss ihr Licht über den Garten und die ruhige See dahinter. Die Luft war erfüllt vom würzigen Aroma der Pinien und Zitronenbäume. Die Rosen würden ihren Duft erst später entfalten.
Eine Eidechse huschte vor ihr über den Pfad und brachte ein paar Steinchen ins Rollen. Amber blieb stehen und schaute sich noch einmal zur Villa um. Dann ging sie widerstrebend weiter zu dem Häuschen, das in einem eigenen kleinen Gärtchen oben auf der Klippe verborgen lag. Die weißen Mauern waren von Bougainvilleen überwuchert, und die Sonne wärmte die Terrakottaziegel auf dem schrägen Dach. Das Gartenhaus lag im Norden der Villa, näher am wilden Pinienwäldchen. Die verschlossenen Fensterläden verrieten keinerlei Lebenszeichen. Die Sonne glitzerte auf den Wellen. Amber beschattete die Augen und steuerte auf die Tür zu, die fast hinter den Kletterrosen verschwand. Kaum vorstellbar, dass ein Mann wie Jean-Philippe an so einem Ort wohnte.
Die Tür stand offen. Zögernd klopfte sie an, erwartete, dass auf ihr Klopfen hin irgendein Dienstbote erschien, am besten die Anstandsdame, die Jean-Philippe Lady Levington versprochen hatte, doch es war der Künstler selbst, der die Tür weit aufriss und sie willkommen hieß.
Das Häuschen war älteren Datums als die Villa. Der Boden bestand aus einfachen Steinfliesen, die Wände waren grob verputzt. Die Haustür führte direkt in eine große Küche mit niedriger Decke, von deren Deckenbalken Kräutersträuße hingen. Der Raum war erfüllt vom Geruch nach Farbe und Terpentin, sodass Amber unwillkürlich nach Luft schnappte.
Jean-Philippe trug einen weiten weißen Kittel über einer Hose, die an den Knien abgeschnitten war und den Blick auf seine muskulösen, sonnengebräunten Waden freigab. Seine Füße waren nackt und staubig. Er lächelte, als er sah, wie Amber sich in der Küche umschaute.
»Das Gästehaus ist vielleicht nicht so großartig wie die Villa, aber es hat etwas, was der Villa fehlt. Zwischen ihm und der Landspitze im Norden liegt nichts mehr, und mein Atelier geht in diese Richtung. Ein so reines Morgenlicht habe ich noch nirgendwo sonst gesehen. Sein Leuchten einzufangen könnte einen in den Wahnsinn treiben. Ich wollte gerade Kaffee machen – willst du auch einen?«, fragte er und wies auf die Kaffeekanne und die Tassen.
Amber schüttelte den Kopf und sah zu, wie er sich einschenkte. Seine Hände, obwohl groß und kantig, waren erstaunlich flink und beweglich.
Er hob die Tasse und trank rasch. »Sie wollen deinen heimlichen Verehrer jetzt wegschicken, n’est-ce pas ?«
»Sie haben gesagt, ich solle früh kommen, damit Sie das Morgenlicht ausnutzen können«, erinnerte ihn Amber und ignorierte seine Frage einfach.
Er leerte die Kaffeetasse, stellte sie auf den Tisch und befahl: »Komm mit.« Dann ging er über einen schmalen, fensterlosen Flur in das dahinterliegende Zimmer. Amber hatte in London Ateliers gesehen, die genau zu diesem Zweck entworfen worden waren, doch das Licht, das in dieses Zimmer strömte, war so intensiv, dass es ihr schier den Atem raubte.
»Ah. Oui. Man spürt es da drin, nicht?«, meinte Jean-Philippe und schlug sich auf die Brust, etwa da, wo das Herz saß. »Es packt einen und überwältigt einen, aber dann, wenn man es nicht einfangen kann, lacht es einen aus.«
Mehrere Leinwände lehnten umgedreht an der Wand. Es roch nach Farbe und Schweiß, Terpentin, Staub und Firnis. Es riecht, dachte Amber hilflos, nach meinem Vater. Sie sah zum Fenster, weil sie nicht wollte, dass Jean-Philippe merkte, wie bewegt sie war.
Der Raum wurde von einer großen Leinwand auf einer Staffelei beherrscht, über die ein Tuch drapiert war, ringsum die vertrauten Künstlerutensilien, davor ein Stuhl, vermutlich für sie, damit sie ihm darauf Modell saß. Am einen Ende des Raums stand ein Bett.
»Beth hat mir erzählt, dass Sie ein Bild bei einer Ausstellung der Akademie einreichen wollen.« Es war besser, höflich zu plaudern, als sich von der Atmosphäre im Zimmer oder der Ausstrahlung des Mannes überwältigen zu lassen.
»Ein Dummkopf, der sein Genie dem prosaischen Blick von Leuten unterwirft, die sich Kunstkritiker schimpfen. Wie wollen die verstehen, was es bedeutet, Künstler zu sein? Ihre Gedanken kreisen nur um Geld und Schirmherren. Und sie zwingen den Künstler unter ihr Joch. Aber man muss ausstellen, muss sich auf dem Markt
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