Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
seine Lippen auf ihre drückte, zeigte er keinerlei Nachsicht für ihre Unerfahrenheit. Wie seine Nacktheit am Vortag war auch dies, wie Amber sehr wohl erkannte, eine rohe Zurschaustellung seiner Männlichkeit. Seine Zunge öffnete mit raschen Bewegungen ihre geschlossenen Lippen. Er schmeckte nach Salz und Gewürzen. Ihr Herz hämmerte. Mit der freien Hand fasste er sie an der Schulter und fuhr ihr mit dem Daumen über das Schlüsselbein. Ihr Körper fühlte sich schwer und doch irgendwie schwerelos an.
Abrupt gab er sie frei und trat zurück.
»Na, bist du jetzt zufrieden, weil deine Neugier gestillt ist?«
»Ich war gar nicht neugierig«, erklärte Amber zornig.
»Natürlich warst du das. Ich habe es dir angesehen. Genau wie gestern am Strand.«
»Nein«, stritt Amber ab, aber er ignorierte sie. Er kehrte zu seiner Staffelei zurück und wies sie an, die Seide wieder in die Hand zu nehmen.
Drei Stunden lang arbeitete er schweigend, durchbrach die Stille nur, um Amber anzuschnauzen, sie solle stillhalten, als ihr schmerzender Arm zu zittern begann, und im Zorn den Pinsel hinzuwerfen, als sie das Zittern nicht unterdrücken konnte, oder um zu ihr zu gehen und ihre Haltung nach seinen Wünschen zu korrigieren. Seine Berührungen waren jetzt unpersönlich und ungeduldig.
Schweigend arbeitete er weiter. Die Sonne stieg hoch in den Himmel hinauf, und die Luft im Atelier wurde dick und stickig, aufgezehrt von seinem gnadenlosen Tatendrang und Ambers Anspannung. Allmählich wurde ihr in dem heißen Atelier schwindelig. Ihre Muskeln schmerzten, doch sie wagte es nicht, sich noch einmal zu bewegen.
Endlich legte Jean-Philippe den Pinsel nieder und sagte, sie könne sich jetzt ausruhen.
»Morgen muss das aber besser gehen, da musst du ganz still sitzen.«
Ungläubig starrte Amber ihn an. Woher nahm er die Frechheit, zu glauben, sie könnte nach allem, was er ihr angetan hatte, noch einmal kommen?
Sie zitterte, als sie an ihm vorbeieilte, wagte aber nicht, etwas zu sagen.
Es war fünf Uhr. Der Schlaf hatte sie fast die ganze Nacht geflohen. Sie konnte genauso gut aufstehen, denn jetzt würde sie auch nicht mehr zur Ruhe kommen.
Als sie am Vortag in die Villa zurückgekehrt war, war sie fest entschlossen gewesen, Jean-Philippe nicht mehr Modell zu sitzen, doch er hatte sie überlistet. Kurz vor dem Abendessen war er aufgetaucht und hatte Lady Levington bezirzt – was Henry finstere Blicke entlockte -, bevor Amber Gelegenheit gehabt hatte, ihrer Gastgeberin ihren Entschluss mitzuteilen.
Wie leicht und flüssig ihm die Lügen über die Lippen kamen! Er hatte behauptet, Amber schenkte ihm die Inspiration, die er so lange gesucht hatte, und es sei ihm nun unmöglich, sein Werk ohne sie zu vollenden.Wie subtil und klug er Lady Levington zu verstehen gegeben hatte, dass Amber von seinem Rat und seiner Hilfe profitiert hätte und gern wiederkommen wollte. Dabei erweckte er den Eindruck, dieser Rat wäre rein intellektueller Natur, während er Amber gleichzeitig anzügliche Seitenblicke zuwarf. Er war hassenswert und widerlich, und das Herz sprang ihr nur deswegen so in der Brust, weil sie zornig auf ihn war und in der Nacht nicht richtig geschlafen hatte.
Nun war es ihr unmöglich, Lady Levington zu erzählen, dass sie Jean-Philippe nicht mehr Modell sitzen wollte, jedenfalls nicht, ohne einen triftigen Grund vorzubringen. Und das konnte sie nun wirklich nicht. Schließlich war es Ambers Ruf, der leiden würde, wenn Lady Levington erfuhr, dass Jean-Philippe sie geküsst hatte. Sie hätte das Atelier verlassen sollen, sobald sie gesehen hatte, dass keine Anstandsdame für sie engagiert worden war. Dass sie es nicht getan hatte, brachte sie in eine ziemlich unhaltbare Lage und warf ein zweifelhaftes Licht auf sie. Nun war es zu spät, sich zu beschweren – und das wusste Jean-Philippe ganz genau.
Jean-Philippe öffnete die Tür, sobald sie klopfte. Amber spürte, wie er sie musterte, weigerte sich jedoch, ihn anzusehen.
»Hast du gefrühstückt?«
»Ich hatte keinen Hunger«, erwiderte Amber angespannt.
Er gab einen Laut von sich, der irgendwo zwischen Spott und Verärgerung lag. »Du musst etwas essen. Setz dich.«
»Ich will aber nicht«, protestierte Amber, doch es hatte keinen Sinn, denn schon drückte er sie auf einen Stuhl am Küchentisch und schenkte Kaffee und heiße Milch in eine große Tasse.
»Trink das«, sagte er, stellte die Tasse vor ihr ab und schob ihr ein Körbchen mit Croissants hin.
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