Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
verkaufen. Geh und nimm da drüben Platz. Ich sag dir, wie du dich hinsetzen sollst.«
Er zog sich den weichen Baumwollkittel über den Kopf, und die Muskeln an seinem Oberkörper traten im Sonnenlicht so scharf hervor, dass Amber die Luft wegblieb.
»Sie haben Lady Levington versprochen, für mich eine Anstandsdame zu engagieren«, erinnerte sie ihn.
Er zuckte die Schultern, knüllte das Hemd lässig zusammen und warf es in eine Ecke. »Wir brauchen keine«, erklärte er arrogant. »Außerdem würde mich das Gequassel irgendeiner albernen Frau nur stören. Deine Züge haben eine Qualität, die mich fasziniert. Ich möchte sie nicht direkt mittelalterlich nennen, aber irgendwie spiegelt es sich darin, und auch etwas Heidnisches.Vielleicht ist es dein russisches Erbe. Reinheit verknüpft mit Leidenschaft, Unschuld mit Sinnlichkeit. Dein missbilligender Blick kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass du es auch willst, Mam’selle Amber Vrontsky.«
Er kam auf sie zu. Am liebsten wäre sie aufgestanden und gegangen, solange es noch möglich war.
»Ich wollte dich eigentlich vor diesen schlichten Wänden malen, Unschuld vor Schlichtheit, aber letzte Nacht ist mir klar geworden, dass ich etwas sehr Wichtiges übersehen habe. Deine Unschuld ist nur eine Maske, die die Gesellschaft dir aufgezwungen hat. Wo habe ich es nur hingetan? Ah, oui , da ist es ja.« Er griff in einen alten Koffer hinter ihrem Stuhl und holte eine Stoffbahn heraus. »Maintenant …«
Er stand viel zu dicht neben ihr, der heiße Geruch seines Körpers stieß sie ab und ließ sie schwindeln, während er den Stoffballen aufwickelte und den Stoff in üppigen Falten auf dem niedrigen Tisch vor ihr drapierte.
Seide – Seide, wie sie sie noch nie gesehen hatte. Sie blickte auf die schimmernden Wogen dunkelblaugrünen Stoffs, bestickt mit scharlachroten, Feuer speienden Drachen, deren Juwelenaugen im Licht funkelten.
Unfähig, sich zurückzuhalten, griff sie nach dem Stoff. Er fühlte sich warm an, lebendig, er atmete, wie es nur die allerbeste Seide konnte.Wenn sie die Augen schloss, konnte sie beinahe wieder ihren Vater hören, wie er von Seide wie dieser hier erzählte, die angeblich nur für die chinesischen Kaiser gefertigt worden war, unbezahlbar und außerhalb der Sammlungen sehr reicher Kunstkenner kaum zu finden.
Vielleicht täuschte sie sich, vielleicht war es gar keine kaiserliche Seide, sondern etwas Einfacheres, doch sobald sie den Stoff berührte, wusste sie, dass sie sich nicht geirrt hatte.
»Nicht bewegen.«
So verzaubert war sie gewesen, dass sie Jean-Phi lippe beinahe vergessen hatte. Er griff rasch nach dem Skizzenblock, kniete vor ihr nieder und warf zügig etwas aufs Papier.
»Diese Mischung aus Huldigung und Sehnsucht in deinem Blick ist perfekt.«
Amber zuckte zusammen, und die Seide glitt ihr schwer aus den Fingern. Jean-Philippes Bemerkung hatte ihr das Gefühl vermittelt, sie hätte ihm einen unglaublich intimen Blick in ihr Inneres gestattet.
»Das ist noch besser, als ich gehofft hatte. Ich werde das Bild Die Tochter des Seidenhändlers nennen, und dann werden wir ja sehen, ob diese langweiligen Kritiker in der Lage sind, das Wort ›Händler‹ mit der Sehnsucht in deinem Blick in Zusammenhang zu bringen. Nur jemand, der den wahren Wert von etwas kennt, kann echte Begierde danach empfinden.«
»Woher stammt die Seide?«, erkundigte sie sich, nicht bereit, auf seine Kommentare einzugehen.
»Sie gehört meiner … meiner Patentante. Als du letzte Nacht erwähnt hast, dass deine Familie eine Seidenfabrik besitzt, wusste ich, dass ich dich vor dieser Seide malen muss.«
Amber wurde stocksteif und weigerte sich, ihn anzusehen. Sie war wütend, dass er ihre Gefühle manipuliert hatte, und sie ärgerte sich darüber, so leicht von ihm zu durchschauen zu sein, denn es vermittelte ihr ein Gefühl der Unterlegenheit.
»Dann vermisst du ihn also nicht, dieses Mondkalb, das nicht mal weiß, wie man dich richtig küssen muss?«
Der unerwartete Themenwechsel brachte sie noch mehr durcheinander.
»Soll ich dir zeigen, was ein richtiger Kuss ist?«
Seine Stimme klang jetzt weicher, aber immer noch spöttisch. Ambers Gesicht brannte, als er den Block hinlegte und auf sie zukam. Sie war auf ihrem Stuhl wie gefangen, konnte nicht entkommen, konnte nichts tun, als er sich über sie beugte und seine große Hand auf ihre Wange legte, die Finger wie flammende Brandzeichen auf ihrem Hals.
Sein Kopf verdeckte das Licht, und als er
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