Der Glanz der Welt
Nicht mit mir.
„Eine Seite geht nicht“, er war sehr gereizt.
„Stimmt“, sagte ich, „oder hast du schon mal wo eine Seite gehen gesehen? Drucken, mein Freund, eine Seite drucken. Du willst sie doch nicht leer lassen?“
„Nach deinem letzten Kommentar habe ich drei Wochen keine Inserate von der Industrie bekommen. Da lass ich lieber mal eine Seite frei. Oder gib sie dem nächstbesten Analphabeten, ja, Analphabet ist gut. Oder von mir aus dem Hansi Hinterseer, der soll einen volkstümlichen Kommentar singen.“
„Mein lieber Freund“, sagte ich mit zuckersüßer Stimme und wiederholte, „mein lieber Freund, mein herzallerliebsterFreund, erstens kann man Gesänge nicht drucken, und zweitens kann der Hinterseer nicht singen.“
„Kann er nicht“, sagte Schefredaktör, „aber das merkt ja keiner, wenn ich die Seite frei lasse.“
„Du hast mich noch gar nicht gefragt, was ich kommentieren will“, sagte ich.
„Ich will es nicht wissen, ich will es nicht drucken. Ich will es nicht lesen. Es macht nur Ärger. Es macht mich krank. Wo sind meine Tabletten? Wahrscheinlich kommt wieder der ganz große Hammer: der tiefe Sumpf, die totale Korruption oder das Wahnsinnskomplott. Was weiß ich.“
„Du hast hundert Eier gewonnen. Komplott ist das Stichwort. Und Werk-Bank“, sagte ich.
„Verschon mich!“, stöhnte er. „Behalte deine hundert Eier, so ein Kommentar kostet mich wieder die Hälfte der Inserate.“
„Nicht dich“, erwiderte ich, „ist nicht dein Geld, ist nicht deine Zeitung. Du bekommst deine Gage, egal wie böse die Inserenten auf euch sind.“
„Aber nur wenn die Inserenten ordentlich inserieren und ordentlich zahlen. Wenn sie aber böse sind, und nach deinen Kommentaren sind sie immer böse, dann gibt es keine Kohle. Und ohne Kohle gibt es irgendwann keine Zeitung, und ohne Zeitung keine Gage für den Chefredakteur. Kannst du dem folgen?“ Er war wütend. Wie ich ihn kannte, nicht nur auf mich, sondern auch auf sich selbst, weil er wusste, letztlich würde er meinen Artikel drucken müssen. Wegen der höheren Gewalt.
„Also hältst du mir jetzt für übermorgen eine ganze Seite frei? Den Titel kannst du schon setzen: Als Komplotte noch Verbrechen waren.“
„Vergiss es“, sagte er.
„Gut“, ließ ich nicht locker, „halte die Seite frei, ich regle das mit der höheren Gewalt.“
„Oh Gott!“, seufzte Schefredaktör, „nicht schon wieder.“ Aber er wollte es so. Dann hatten andere die Verantwortung für den Umsatzrückgang der Anzeigenabteilung. Das war dann nicht mehr sein Kaffee. Er legte ohne weiteren Kommentar auf. Ich liebe es ungemein, wenn Leute mitten im Gespräch auflegen. Aber meine Gespräche mit ihm endeten fast immer so.
Also gleich noch die höhere Gewalt anrufen. Klingt geheimnisvoll, ist es irgendwie auch. Ich besuchte mit Ludwig viele Jahre dasselbe katholische Internat. Er blieb katholisch, ich nicht. Er blieb sehr katholisch. Man könnte sagen: Er wurde jedes Jahr katholischer, schlussendlich sogar Kardinal. Vergessen, dass er einst gegen den Zölibat war. Ein melancholischer Zölibatsfreund angesichts einiger kleiner Liebschaften, die nicht weit geführt hatten, nicht einmal bis zur Pflicht, bei der Beichte darüber zu berichten. Aus einem Progressiven war ein Konservativer geworden. Nur unsere Freundschaft, die hatte merkwürdigerweise all seine Wandlungen und Weihen und meinen sanften Spott überlebt. Er war der Hirt, und ich war sein Schaf, das stets meckerte. Er war bibeltreu: Weide meine Lämmer, weide meine Schafe. Er weidete mich. Und ich weidete mich daran, war ein verdammt schwarzes Schaf, das er vor der ewigen Verdammnis retten musste. Er liebte in mir den Nächsten, den es der Lehre gemäß zu lieben galt, nahm mich wohl als Prüfung Gottes hin, als Beweis, dass dessen Ratschlüsse wirklich unerforschlich sind. Aber was das Schönste war: Seiner Diözese gehörte jene feine Zeitung, in der ich regelmäßig meine unfeinen Kommentare schreiben durfte. Und il cardinale war als Eigentümervertreter auf irgendeine Art der Chef vom Laden. Im Allgemeinenmischte er sich nicht ein und ließ die Redaktion werken. Nur ich bereitete ihm regelmäßig Kummer, genau genommen: meine Kolumne „Adlerauge sei wachsam“. Es war wieder einmal so weit – ich musste ihm Kummer bereiten. Ich brauchte ihn und wählte sein Privathandy an.
„Gelobt sei Jesus Christus“, klang es aus dem Hörer, unterlegt mit gregorianischen Chorälen.
„Grüß dich,
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