Der Glanz der Welt
Schefredaktör. Also raus damit per E-Mail. Ein paar ZeilenBegleittext. „Nichts kürzen, du Aas! Nichts umstellen! Nichts korrigieren! Sonst holt dich zwar nicht der Teufel, aber seine Eminenz. Gruß und Kuss! Es lebe der Bleisatz! Dein Adlerauge.“ Anhang nicht vergessen. Senden-Button anklicken. Weg war die Chose. Es war an der Zeit, sich hübsche Betonpatscherln auszusuchen. Unsinn. Hierzulande mordet man anders, heimtückischer. Im Altersheim mit ein paar Ampullen Insulin für Nichdiabetiker. Wegsperren in einem Keller oder in der U-Haft verschimmeln lassen. Fesseln, knebeln und ab in die Tiefkühltruhe. Aber man muss sich nicht fürchten. So ist das Leben. Den Kommentar, den willst du noch gedruckt in der Zeitung erleben. Deren Gesichter sehen, ihre staunend blöden Gesichter. Das war es wert. Das war die Sache wert. Ihre saudummen Ausreden zu hören, ihr NLP-Geschwätz. Du kannst zufrieden sein. Ein wenig. Ein paar Minuten wenigstens. Man gönnt sich ja sonst nichts. Früher zitierte man Goethe, heute Werbung. So ändern sich die Zeiten. Über allen Gipfeln ist Ruh.
5. KAPITEL | Eine schöne Frau und ein unschöner Mord
Snobs und andere Merkwürdigkeiten
Man braucht ein Gemüt wie ein Schlachterhund in diesen Tagen. Ich bin kein Schlachterhund. Mein Spiel war ein gefährliches. Mit diesen Herren war nicht zu spaßen. Humor hatten die nicht im Repertoire. Denen war alles zuzutrauen – außer die Einhaltung der Zehn Gebote.
Einen Abend lang alles vergessen, abtauchen, die Welt so lassen, wie sie gerade war. Auf zur Brunello-Verkostung, im Kopf den alten Trinkerspruch: Ich trinke, um zu vergessen. Man vergaß natürlich nicht. Nichts vergaß man. Aber man schob den alltäglichen Mist beiseite. Für ein paar Stunden entzog man sich dem Glanz der Welt, dem Imperium aus Nichts und Talmi, kein Grapschmann, kein Schnittling. Keine Verstrickungen und Komplotte, alle Fragen gelöst, keine Antworten offen. Man saß mit ein paar fanatischen Deppen und diskutierte über Nuancen, die kleinen Unterschiede zwischen Weinen und die großen Unterschiede zwischen den Menschen. Eine Leidenschaft, so unnötig wie nur was. Man maß dem eindeutig zu viel Bedeutung bei, keine Frage. Aber darum ging es ohnedies nicht. Eine Fluchtbewegung, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Alles ausgeblendet und nur die Weinenzyklopädie im Hirn eingeschaltet. Nur mehr Zunge und Geschmack, und nach einer Weile senkte sich eine leichte Benommenheit herab, sieh da: ein Schwips, die Welt hüllt sich in mildes Licht. Eine Vorstufe jener Trunkenheit, die zu erreichen man besser vermied.
Drei Mal schon hatte heute der Kardinal geläutet. Nicht die Glocken, sondern am Handy. Läuten – das war sowieso das falsche Wort. Das Läuten erledigten die Kinks, Supersonic Rocket Ship. Entspannt und lässig singt Ray Davis bei ankommenden Anrufen seinen Text: „On my supersonic rocketship nobody has to be hip, nobody needs to be out of sight, nobody’s gonna travel second class …“ Der Kardinal also. Aber wozu abheben? Wahrscheinlich ein vorsichtiger Rückzieher, oder da und dort eine kleine Abschwächung. Aber es gab nichts abzuschwächen. Diesen Kerlen musste man ganz fest in die Eier treten. Klarstellen: Der Adler weiß alles! Aber niemand weiß, wer dieser berüchtigte Adler ist. Das war die Taktik. Mit Speck fängt man Mäuse. Der Speck hieß Unsicherheit. Angst, entlarvt zu werden. Für die war alles nur ein Spiel, solange die Anwälte und die Kautionen funktionierten. Solange auf die Justiz Verlass war, weil sie von allen guten Geistern verlassen war. Aber selbst im schäbigsten Casino rief irgendwann der Croupier sein „rien ne va plus“. Natürlich ging dann noch immer was, weil für diese Kerle immer noch irgendwas geht. Aber es wird von Mal zu Mal enger. Daran musste man glauben, sonst hatten die schon gewonnen. Sie gewannen ohnedies viel zu oft. Du bist ein hoffnungsloser Optimist, sagt das Hirn. Du lächelst und nickst. Hoffnungslosigkeit und Optimismus, wenn das denn zusammenging, dann passte es schon.
Ein wenig Nebel legte sich in die Gassen. Die erste richtig kalte Nacht im Spätherbst. Die Lichter verschwammen in Unschärfe und schimmerten sanft. Nur die Aufschrift „Giacomos“ knallte ihr hartes und unbarmherziges Neonblau in die Nacht. Der Atem vor dem Gesicht. Schneien würde es nicht, obwohl es so roch. Das Kopfsteinpflaster glänzte matt. Der Schriftzug vom Giacomos auf dem Trottoir zerlief wie Wasser im Sand,spiegelte sich
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