Der Glanz der Welt
gefehlt! Das hier ist eine Trauerfeier, die Sie stören!“ Mühsal hatte sich entschlossen, vorläufig unwirsch zu bleiben.
„Trauerfeier?“, sagte Pirchmoser zweifelnd. „Ich hörte eben etwas von der Heiterkeit der Kunst.“
Gans mischte sich ein: „Ja, denn die Kunst erhebt sich über uns Sterbliche, das lässt sie heiter sein. Und ein wenig von dieser Heiterkeit schenkt sie dann uns Irdischen. Aber das Leben, dem wir alle eines Tages entsagen werden müssen, bleibt trotzdem ein ernstes. Nur die Kunst spendet Trost, ist uns Ansporn und Erleichterung zugleich: ,Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind.‘“
Gans zitierte immer den „Erlkönig“, es war sein Leib-und-Magen-Gedicht. Er zitierte es immer, passend oder unpassend.Denn so wie man einen wirklich erstklassigen Wein beinahe zu jeder Speise trinken konnte, war auch der „Erlkönig“ in jeder Lebenssituation zitierbar. Fand jedenfalls Gans, der im Verein übrigens den Bruderschaftsnamen „Dorfrichter“ trug, nach seiner Lieblingsrolle, dem Dorfrichter Adam im „Zerbrochenen Krug“. Diese seine Lieblingsrolle war genau genommen seine Lieblings-Wunschrolle, denn er hatte ihn noch nie gespielt. Ein einziges Mal hatte man ihm die Rolle angeboten, aber nach 14 Probentagen hatte er resigniert aufgegeben. Der Dorfrichter als rauschgiftsüchtiger Transvestit, der sich anstatt zu flüchten zum Katholizismus bekehrt und sogar seine Schuld an der Zerstörung des Kruges einbekennt, nein, das überstieg die Vorstellungskraft von Herbert Gans. Dafür hatte er sich nicht die Kosten für den Besuch einer privaten Schauspielschule vom Mund abgespart.
„Ich nehme an, Sie kommen wegen der tragischen Todesfälle, die unseren auserwählten Kreis hier zutiefst erschüttert haben“, sagte Mühsal.
„Davon dürfen Sie ausgehen.“ Pirchmoser nickte. „Ich habe da ein paar Fragen und hoffe auf Antworten, die mir vielleicht weiterhelfen.“
„Was ist Ihre Meinung“, fragte Miller, „sind die beiden wirklich ermordet worden? Und wenn ja: Ist das eine Mordserie?“
Pirchmoser richtete sich auf, hob das Kinn, schlug sich mit der Hand pathetisch gegen die Brust und sagte dann ebenso pathetisch: „Ich hab’ hier bloß ein Amt und keine Meinung.“ Dann fügte er noch hinzu: „Wallenstein, Teil drei, Wallensteins Tod, Zweiter Aufzug, Dritte Szene.“
„Stimmt!“, sagte Gans und wirkte ein wenig verwundert. Ein Kriminalbeamter mit Schiller-Kenntnissen. Heutzutage muss man wirklich nehmen, was man bekommt. Kieberer,bleib bei deinen Handschellen, möchte man da rufen. Aber Gans schwieg lieber. Mit Polizisten war nicht zu spaßen. Schon gar nicht, wenn sie aus „Wallenstein“ zitieren konnten.
„Darf ich Platz nehmen?“, fragte Pirchmoser und setzte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, zu der kleinen Tischgesellschaft. „Ich habe ein paar Fragen und wäre Ihnen allen dankbar, wenn Sie sich ein wenig Zeit nehmen würden. Dann können wir das gleich hier und vielleicht ein für allemal erledigen.“
Da Pirchmoser scheinbar zu den unvermeidbaren Plagen, die man nur geduldig über sich ergehen lassen kann, zählte, schaltete Mühsal auf leutselig um.
„Dann wollen wir mal“, sagte Pirchmoser. „Ich habe schon gehört, dass Sie von einem gemeinsamen Interesse geleitet werden. Ich kenne mich zwar am Theater nicht aus, aber wenn ich es richtig verstehe, dann ist die Moderne nicht Ihr Ding.“
„Das kann man so formulieren“, sagte Mühsal, „auch wenn es missverständlich ist. Wir sind nicht grundsätzlich gegen Neuerungen, aber was heute am Theater getrieben wird, das geht wirklich zu weit. Darum haben wir uns in diesem kleinen, feinen Verein zusammengetan, und umso härter trifft uns der Tod zweier Mitglieder.“ Mühsal legte sein Gesicht in Trauerfalten.
Pirchmoser nickte anteilnehmend: „Ja, heutzutage geht man überall zu weit. Wohin das Auge blickt, lauter Zuweitgeher. Würden Sie so nett sein und mir zuerst vielleicht erklären, was der Vereinszweck ist, welche Verpflichtungen man da eingeht und welche Vorteile man aus der Mitgliedschaft zieht?“
„Wenn ich da antworten darf“, sagte Mühsal, „ich bin der Präsident und sozusagen unser Sprachrohr.“
„Nur zu“, sagte Pirchmoser, „nur zu.“
„Die dritte Frage kann ich ganz schnell beantworten: Vorteile hat die Mitgliedschaft bei uns keine, wenn man davon absieht, dass man sich hier im Kreise Gleichgesinnter austauschen und von einer besseren
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