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Der Glanz der Welt

Der Glanz der Welt

Titel: Der Glanz der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Amon
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auf einem kleinen, engen Platz direkt neben dem Graben befindet. Vor der Kirche war ein Fiakerstandplatz, wo man jederzeit einen Kutscher für eine kleine Tour durch die Wiener Innenstadt anheuern konnte.
    „Was kostet eine Rundfahrt?“, wollte Chiara wissen.
    „Das ist Verhandlungssache. Eine kleine Runde durch den ersten Bezirk kostet zwischen dreißig und fünfzig Euro. Und wenn ich verhandle, dann kostet es sechzig“, sagte ich.
    „Dann lass mich machen“, sagte Chiara, „ich kann das.“
    „Nichts lieber als das“, ich war erleichtert, „und woher stammt diese Fähigkeit? Meine diesbezügliche Unfähigkeit ist nämlich allem Anschein nach genetisch.“
    „Beim Zuschauen gelernt. Mein Vater hat früher nicht nur eigenes Traubengut verarbeitet, sondern auch zugekauftes und musste daher mit den Weinbauern verhandeln. Da geht es mehr um ein Gefühl als um Wissen. Du musst spüren, wo der andere seine Schmerzgrenze hat, und ihm dann noch genug Luft zum kräftigen Durchatmen lassen. Mein Vater hält viel auf Fairness, auch wenn die heute nicht mehr so gefragt ist. Zum Glück haben wir inzwischen genug eigene Anbauflächen und müssen keine Trauben mehr zukaufen.“
    „Ich spüre nur meine Schmerzgrenze. Wenn ich auf einem Markt um den Preis gehandelt habe, dann schmerzt es jedenfalls immer mich, während die Händler zufrieden grinsen und mich salbungsvoll verabschieden, begleitet von dem glaubwürdigen Wunsch, mich bald wieder in ihrem Laden begrüßen und bescheißen zu dürfen. Letzteres verschweigen sie natürlich dezent.“
    Chiara trat zum ersten Gespann, der Fiaker beugte sich hinunter. Ich konnte nichts erkennen, weil sie ihn verdeckte. Sie wechselten ein paar Worte, ziemlich leise, ich verstand nichts, dafür gestikulierten sie heftig. Nach ungefähr einer halben Minute nickte Chiara mir zu, und wir bestiegen die Karosse. Trotz der Kälte war das Verdeck offen, so sah man einfach besser und mehr. Wir setzten uns in Fahrtrichtungschauend nebeneinander und bedeckten uns mit den wärmenden, schweren Decken, zogen sie über den Nabel hinauf, sodass wir von den Füßen bis zum Bauch gut zugedeckt waren. Die Pferde trabten los, der Fiaker setzte sich langsam und ruckelnd in Bewegung, die Hufe schlugen auf das Pflaster. Ich war sicher, der erste Wiener zu sein, der eine Fiakerrundfahrt machte. Wahrscheinlich irrte ich, sicher sogar, aber das änderte nichts an meinem Gefühl.
    „Was hast du ausgemacht?“, fragte ich, denn eigentlich war es meine Einladung, wenn auch auf Chiaras Wunsch.
    „Er wollte siebzig haben, für die kleine Tour. Ich habe ihn auf die Hälfte heruntergehandelt. Zufrieden?“
    „Sehr zufrieden“, sagte ich, „bei mir wären es wohl hundert geworden.“ Ich war nicht geizig, aber ich hasste es, ausgenommen zu werden. Basarmethoden sind mir absolut zuwider. Aus ganz egoistischen Gründen: Ich zahle dabei immer drauf, und das ist wortwörtlich zu verstehen. Manche Käufer dienen dem Broterwerb des Händlers, die weniger geschickten sorgen für die Butter auf seinem Brot. Ich war der Finanzier der getrüffelten Gänseleber aus Strasbourg, erste Qualität.
    Kaum hatte die Kutsche ein wenig an Fahrt gewonnen, bremste der Fahrer die Pferde mit einem kräftigen Griff in die Zügel und einem lauten Schnalzen mit der Zunge ab und brachte das Vehikel zum Stillstand. Von rechts kam ein kleiner Junge gelaufen und reichte dem Fiaker eine große, quadratische und flache Schachtel hinauf auf den Kutschbock. Der Fiaker legte sie neben sich auf die Bank und fuhr wieder los. Während er mit der linken Hand die Zügel hielt, öffnete er mit der rechten Hand die Schachtel und nahm nach einigem Gezerre etwas heraus. Ich traute meinen Augen nicht.Ein Stück Pizza. Sah gatschig aus, rote Pampe tropfte hinunter auf den Kutschbock, der Fiaker biss ab, nein, er stopfte sich das ganze Stück mit den Fingern in den Mund und kaute laut schmatzend an dem Germfladen. Jetzt konnte man es riechen. Billige Paradeispampe, wahrscheinlich aus demselben Labor wie der stinkende Käseersatz, den irgendein zynischer EU-Bürokrat „Analogkäse“ getauft und ins Handbuch der erlaubten Lebensmittel eingetragen hatte. Dabei war dieser „Käse“ ein Mordinstrument. Es stank fürchterlich, sogar der Oregano, der sich auf die Pizza verirrt hatte, roch wie ein misslungenes Experiment im Chemieunterricht.
    Wir hatten den Petersplatz verlassen und waren durch die Milchgasse und über die Tuchlauben in die Brandstätte

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