Der Glanz des Mondes
dabei um.«
»Das hast du mir gar nicht erzählt!«
»Ich wollte Lady Shirakawa nicht beunruhigen und sie nicht wieder krank machen. Aber mit jedem Toten nimmt der Unmut gegen Takeo zu. Ich würde solch ein Leben nicht gern führen.«
Nein, dachte Shizuka, das würde niemand von uns gern. Wir würden lieber ohne Intrigen und Misstrauen leben. Wir würden nachts gern tief schlafen, ohne auf jedes nicht vertraute Geräusch zu lauschen, ohne uns vor dem Messerstich durch den Fußboden, dem Gift im Essen, dem unsichtbaren Bogenschützen im Wald zu fürchten. Zumindest kann ich mich nun im geheimen Dorf ein paar Wochen lang sicher fühlen.
Die Sonne begann unterzugehen; ihre leuchtenden Strahlen fielen zwischen die Zedern, tauchten die Baumstämme ins schattige Dunkel. Verschwenderisch ergoss sich das Licht über den Waldboden. Während der letzten Minuten hatte Shizuka bemerkt, dass ihnen jemand folgte.
Bestimmt die Kinder, dachte sie und urplötzlich stand ihr in aller Klarheit wieder das Bild vor Augen, wie sie selbst als Kind diese Gegend durchstreift und ihre Sinne geschärft hatte. Sie kannte jeden Felsen, jeden Baum, jeden Umriss dieser Landschaft.
»Zenko! Taku!«, rief sie. »Seid ihr das?«
Als Antwort kam nur ein unterdrücktes Kichern. Shizuka vermeinte Schritte zu hören; irgendwo in einiger Entfernung rieselte Geröll. Die Kinder nahmen die Abkürzung nach Hause, rannten zum Kamm hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter, während sie und Kondo dem gewundenen Pfad folgten. Sie lächelte und versuchte, ihre düstere Stimmung abzuschütteln. Sie hatte ihre Söhne und würde tun, was immer auch für sie das Beste zu sein schien. Und sie würde dem Rat ihrer Großeltern folgen. Ganz gleich, was sie sagten, sie würde es tun. Im Gehorsam lag ein gewisser Trost, und außerdem bedeutete er dem Stamm alles, so wie Kondo es gesagt hatte.
Wieder versuchte sie die Gedanken an ihren eigenen schwer wiegenden Ungehorsam in der Vergangenheit zu verdrängen und hoffte, dass er zusammen mit den Toten für immer begraben bliebe.
Sie verließen den Hauptweg, kletterten über einige Felsen und folgten einem schmaleren Pfad, der sich durch die zerklüftete Schlucht schlängelte. Weiter hinten machte er eine letzte Kurve und führte dann ins Tal hinab. Shizuka blieb einen Moment stehen. Die Aussicht verzauberte sie immer wieder: Das verborgene Tal inmitten der zerfurchten Berglandschaft verschlug einem den Atem. Durch den leichten Dunstschleier, der von den aufsteigenden Nebeln des Flusslaufs und dem Rauch der Feuerstellen herrührte, blickten sie auf eine kleine Ansammlung von Häusern herab, und als der Weg durch die Felder schließlich hinter ihnen lag, tauchten die Häuser weiter oben wieder auf, geschützt von einem starken Palisadenzaun.
Das Tor war allerdings offen und die Wachtposten begrüßten Shizuka freudig.
»Willkommen zu Hause!«
»So begrüßt ihr inzwischen Besucher? Sehr nachlässig; wenn ich nun eine Spionin wäre?«
»Deine Söhne haben dich schon angekündigt«, erwiderte einer der Männer. »Sie haben dich auf dem Berg gesehen.«
Eine wohlige Erleichterung durchfuhr sie. Bis zu diesem Moment war ihr gar nicht bewusst gewesen, wie sehr sie sich ständig um die beiden sorgte. Doch sie waren am Leben und wohlauf.
»Dies ist Kondo…« Sie unterbrach sich, als sie merkte, dass sie seinen Vornamen gar nicht kannte.
»Kondo Kiichi«, sagte er. »Mein Vater war Kuroda Tetsuo.«
Die Augen der Wachtposten verengten sich, als sie seinen Namen notierten, ihn in die Stammeshierarchie einordneten und ihn sowohl nach Aussehen als auch seiner Herkunft nach einschätzten. Die beiden waren Shizukas Cousins oder Neffen. Sie war mit ihnen aufgewachsen, denn sie hatte viele Monate bei ihren Großeltern verbracht, wohin sie als Kind geschickt worden war, um zu trainieren. Sie hatte sich mit den beiden Jungen gemessen, hatte sie genau beobachtet und überlistet. Dann hatte das Schicksal sie wieder nach Kumamoto und zu Arai geführt.
»Nimm dich vor Shizuka in Acht!«, warnte der eine von ihnen Kondo. »Ich würde es vorziehen, mit einer Viper zu schlafen.«
»Dafür stehen deine Chancen auch weitaus besser«, gab sie zurück.
Kondo sagte nichts, sondern warf ihr, mit erhobener Augenbraue, lediglich einen Blick zu, als sie passierten.
Von außen betrachtet wirkten die Bauten des Dorfes wie gewöhnliche Bauernhäuser, mit spitz zulaufenden Reetdächern und verblichenen Balken aus Zedernholz.
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