Der Glanz des Mondes
Mädchen die Tabletts zu den Männern hinausgetragen hatten, erhob sich die alte Frau.
»Geh ein Stück mit mir spazieren. Ich möchte, dass du mich zum Schrein begleitest. Ich werde ein Opfer bringen, zum Dank dafür, dass du wohlbehalten heimgekehrt bist.«
Sie nahm in Stoff gewickelte Reisbällchen und eine kleine Flasche Wein mit. Neben Shizuka schien sie plötzlich geschrumpft zu sein und langsamer zu gehen, dankbar für den stützenden Arm ihrer Enkelin.
Die Nacht brach herein. Die meisten saßen in ihren Häusern beim Essen oder gingen bereits zu Bett. An einer der Türen bellte ein Hund und kam auf sie zugesprungen, aber eine Frau rief ihn zurück und grüßte dann zu ihnen hinüber.
Aus dem dichten Wäldchen, das den Schrein umgab, tönten Eulenschreie und Shizukas scharfes Gehör nahm das hohe Fiepen der Fledermäuse wahr.
»Du kannst sie immer noch hören?«, sagte ihre Großmutter und deutete auf die flüchtigen Schatten. »Und ich kann sie kaum mehr sehen! Das ist die Kikuta in dir.«
»Mein Hörvermögen ist nichts Besonderes«, sagte Shizuka. »Ich wünschte, es wäre so.«
Ein Bach floss durch den Hain, an seinen Ufern glühten die Leuchtkäfer. Vor ihnen erhob sich das Tor, leuchtend rot im schwindenden Licht. Sie passierten es, wuschen sich die Hände und spülten den Mund an der Fontäne. Über der Zisterne aus blauschwarzem Stein wachte ein schmiedeeiserner Drache. Das Gebirgswasser war eisig kalt und klar.
Vor dem Schrein brannten Lampen, obwohl er verlassen zu sein schien. Die Alte legte ihre Gaben auf das hölzerne Podest vor der Statue des Hachiman, den Gott des Krieges. Sie verneigte sich zweimal, klatschte dreimal in die Hände und wiederholte das ganze Ritual dreimal. Shizuka tat dasselbe und ertappte sich dabei, dass sie nicht für sich selbst oder ihre Familie betete, sondern für Kaede und Takeo, die sich in einem Krieg befanden, der sie mit Sicherheit verschlingen würde. Fast schämte sie sich vor sich selbst - glücklicherweise konnte niemand ihre Gedanken lesen. Niemand außer dem Kriegsgott selber.
Ihre Großmutter stand da und starrte nach oben. Ihr Gesicht wirkte so uralt wie die gemeißelte Statue und ebenso erfüllt von göttlicher Energie. Shizuka spürte die Kraft und Ausdauer der alten Frau und empfand ihr gegenüber Liebe und Ehrfurcht. Sie war froh, zu Hause zu sein. Die alten Menschen besaßen die Weisheit von Generationen; vielleicht ging etwas davon ja auch auf sie über.
Sie verharrten eine Weile reglos, dann war plötzlich ein hastiges Geräusch zu vernehmen, eine Tür glitt beiseite, Schritte auf der Veranda. Der Priester des Schreins kam auf sie zu, bereits in seiner Abendkleidung.
»So spät hatte ich niemanden mehr erwartet«, sagte er. »Kommt und trinkt eine Schale Tee mit uns.«
»Meine Enkelin ist zurück.«
»Ah, Shizuka! Du warst lange weg. Willkommen zu Hause.«
Sie saßen eine Weile mit dem Priester und seiner Frau beisammen, unterhielten sich ungezwungen, tauschten den neuesten Tratsch des Dorfes aus. Schließlich sagte die Großmutter: »Kenji wird jetzt sicher Zeit für dich haben. Du solltest ihn nicht warten lassen.«
Sie liefen den Weg zwischen den dunklen Häusern zurück, in denen nun fast überall Ruhe herrschte. Um diese Jahreszeit gingen die Leute früh zu Bett und standen im Morgengrauen auf, um die Arbeiten des Frühjahrs anzugehen, das Vorbereiten und Bepflanzen der Felder. Shizuka rief sich die Tage in Erinnerung, die sie als junge Frau in den Reisfeldern zugebracht hatte, bis zu den Knöcheln im Wasser stehend, die kleinen Sämlinge auspflanzend, ebenso jung und fruchtbar wie sie, während die älteren Frauen an den Uferböschungen die traditionellen Lieder sangen. War sie inzwischen zu alt, um beim Auspflanzen dabei zu sein?
Und wenn sie Kondo heiraten würde, wäre sie dann bereits zu alt, um noch ein Kind zu bekommen?
Die Mädchen räumten gerade die Küche auf und schrubbten das Geschirr sauber, als sie zurückkamen. Taku saß an der Stelle, wo zuvor Shizuka gesessen hatte, die Augen fielen ihm fast schon zu, sein Kopf sackte von Zeit zu Zeit nach unten.
»Er soll dir etwas ausrichten«, lachte Miyabi. »Wollte es keinem anderen sagen als dir!«
Shizuka setzte sich neben ihn und kitzelte seine Wange.
»Nachrichtenüberbringer dürfen doch nicht einschlafen«, neckte sie ihn.
»Onkel Kenji ist jetzt bereit mit dir zu sprechen«, sagte Taku gewichtig und zerstörte den Effekt gleich wieder, indem er gähnte. »Er ist
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