Der Glanz des Mondes
Jahren. Wir hatten keine Kinder.«
Shizuka musterte ihn kurz und fragte sich, ob er wohl um sie trauerte.
»Sie war eine sehr unglückliche Frau«, sagte er. »Und nicht ganz normal. Es gab immer wieder Zeiten, in denen sie von furchtbaren Wahnvorstellungen und Ängsten geplagt wurde. Sie sah Geister und Dämonen. Wenn ich bei ihr war, ging es ihr besser, aber ich war häufig unterwegs. Damals arbeitete ich als Spion für die Familie meiner Mutter, die Kondo, die mich adoptiert hatten. Auf einer sehr langen Reise wurde ich durch schlechtes Wetter aufgehalten. Als ich nicht zur erwarteten Zeit zurückkehrte, erhängte sie sich.«
Zum ersten Mal war jegliche Ironie aus seiner Stimme gewichen. Sie spürte seinen echten Kummer und merkte, wie er ganz plötzlich und unerwartet etwas in ihr anrührte.
»Vielleicht wurde sie zu hart erzogen«, sagte er. »Ich frage mich oft, was wir unseren Kindern eigentlich antun. In mancher Hinsicht war es eine Erleichterung, keine zu haben.«
»Als Kind empfindest du es wie ein Spiel«, sagte Shizuka. »Ich erinnere mich, dass ich stolz auf meine Fähigkeiten war und die anderen, die sie nicht hatten, verachtete. Man stellt die Erziehung, die man erhält, nicht in Frage. Es ist einfach, wie es ist.«
»Du bist begabt; schließlich bist du die Nichte und Enkelin der Mutomeister. Als Kuroda, auf der mittleren Ebene der Hierarchie, hat man es nicht so leicht. Und für jemanden, der keine natürliche Begabung hat, ist die Ausbildung sehr schwierig.« Er machte eine Pause und fügte leise hinzu: »Vielleicht war sie zu empfindsam. Keine noch so harte Erziehung kann den innersten Kern einer Persönlichkeit auslöschen.«
»Da wäre ich nicht so sicher. Dein Verlust tut mir sehr Leid.«
»Es ist ja schon lange her. Aber dadurch habe ich sicher ein paar der Dinge, die man mich lehrte, in Frage gestellt. Worüber ich natürlich nur mit den wenigsten rede. Wenn man zum Stamm gehört, ist man gehorsam, etwas anderes gibt es nicht.«
»Wenn Takeo beim Stamm aufgewachsen wäre, hätte er den Gehorsam vielleicht ebenfalls gelernt, so wie wir alle«, sagte Shizuka, als würde sie laut nachdenken. »Er hasste es, zu tun, was man ihm sagte, und er hasste es, Grenzen gesetzt zu bekommen. Und was tun die Kikuta? Geben ihn zu Akio ins Training wie einen Zweijährigen. Sie sind doch selber schuld, dass er abtrünnig wurde. Shigeru wusste von Anfang an mit ihm umzugehen und gewann seine Treue. Takeo hätte alles für ihn getan.« Wie wir alle, fügte sie im Stillen unwillkürlich hinzu und versuchte den Gedanken rasch zu verdrängen. Sie hatte so einige Geheimnisse, die Lord Shigeru betrafen, von denen nur die Toten etwas wussten, und sie fürchtete, dass Kondo etwas davon erfahren könnte.
»Was Takeo getan hat, war sehr beachtlich«, bemerkte Kondo, »wenn man all diesen Geschichten Glauben schenken kann.«
»Du lässt dich beeindrucken, Kondo? Ich dachte, dass dich rein gar nichts beeindruckt!«
»Jeder bewundert Mut«, erwiderte er. »Und auch in mir fließt, wie bei Takeo, gemischtes Blut, sowohl vom Stamm als auch von den Clans. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr wuchs ich beim Stamm auf, dann wurde ich äußerlich ein Krieger und unter dieser Tarnung ein Spion. Vielleicht kann ich etwas von der Zerrissenheit nachfühlen, die er durchlebt haben muss.«
Eine Weile liefen sie schweigend weiter; dann sagte er: »Außerdem bin ich von dir beeindruckt, das weißt du doch.«
An diesem Tag war er weniger zurückhaltend, zeigte seine Gefühle ihr gegenüber offener. Sie nahm sein Verlangen deutlich wahr und konnte ihm, nachdem sie ihn erst bedauert hatte, weniger als sonst widerstehen. In ihrer Rolle als Arais Geliebte oder Kaedes Dienerin hatte sie einen gewissen Status und den damit verbundenen Schutz genossen. Nun aber waren ihr nur die eigenen Fähigkeiten geblieben und dieser Mann, der ihr das Leben gerettet hatte und keinen schlechten Ehemann abgeben würde. Es gab keinen Grund, nicht mit ihm zu schlafen, also ließ sie sich, nachdem sie um die Mittagszeit ihr Mahl beendet hatten, von ihm in den Schatten der Bäume führen. Der Geruch von Kiefernnadeln und Zedern hüllte sie ein, die Sonne war warm, es ging ein leichter Wind. In einiger Entfernung war das gedämpfte Rauschen eines Wasserfalls zu hören. Alles kündete von Frühling, neuem Leben. Seine Liebeskünste waren nicht so schlecht, wie sie befürchtet hatte, obwohl er, verglichen mit Ishida, eher rau und hastig mit ihr
Weitere Kostenlose Bücher