Der Glanz des Südsterns: Roman (German Edition)
versagen. Anfangs war Norman voller Wut und Selbstmitleid wegen des verlorenen Beins gewesen, aber an diesem Abend war das anders. Sein Sinn für die Realität war erwacht, und das Selbstmitleid hatte sich in entsetzliche Angst verwandelt – Angst davor, dass er sterben und seine Mädchen nicht aufwachsen sehen könnte.
Lyle zog Elena weg von Norman. Wenn der junge Soldat auch in den Genuss einiger Minuten gnädigen Schlafs gekommen war, wollte er doch auf keinen Fall Gefahr laufen, dass er plötzlich aufwachte und mit anhörte, was er nun zu sagen hatte.
»Du weißt, dass er womöglich auch das andere Bein verlieren wird, Elena«, flüsterte Lyle. »Die Entscheidung fällt morgen. Falls wir sein Leben nur durch die Amputation retten können, werden wir keine Wahl haben.«
Elena war zu erschöpft, um ihre Gefühle unter Kontrolle halten zu können, und ihre dunkelbraunen Augen füllten sich mit Tränen.
»Ich weiß. Ich hoffe sehr, dass sein Bein gerettet werden kann. Er hat schon so viel verloren.«
»Ich bin sicher, Elena, seine Frau zieht es vor, einen Mann ohne Beine zu haben, als gar keinen Mann. So solltest du das sehen.«
Elena ließ den Kopf sinken. »Du hast Recht«, flüsterte sie. »Du bist so stark und klug, Lyle. Ich wünschte, ich wäre wie du.«
Bei der Bemerkung zuckte Lyle zusammen. »Ich bin alles andere als vollkommen, Elena. Ich bin bloß ein Mann, der versucht, sein Bestes zu geben. Und das gelingt mir keineswegs immer.«
»Du hast so vielen schon das Leben gerettet. Ich weiß gar nicht, was dieses Krankenhaus ohne dich anfangen sollte, Lyle, und wie ich ohne dich die Tage durchstehen könnte.«
»Du bist stärker, als du denkst, Elena, und du spendest Männern wie Norman so viel Trost. Du solltest nicht unterschätzen, was für ein besonderer Mensch du bist.«
Lyle nahm ihre Hand und führte sie noch weiter von Normans Bett fort. In einer nur schwach beleuchteten Ecke der Station standen sie einander gegenüber. Lyle sah Elena in die Augen. Er hatte gegen die Gefühle für sie angekämpft, aber es fiel ihm schwerer und schwerer, den Ruf seines Herzens zu ignorieren. Er wollte sie küssen, wollte sie wieder und immer wieder küssen.
Elena wurde jäh von ihren Empfindungen überwältigt. Lyle war der attraktivste Mann, den sie je gesehen hatte. Alle Schwestern im Victoria Hospital, egal wie alt sie waren, wurden beinahe ohnmächtig, wenn er in ihre Richtung schaute, er schien das jedoch nicht zu bemerken. Elena war durchaus empfänglich für sein gutes Aussehen, er war groß und blond und hatte grüne Augen, aber sie war aufrichtig davon überzeugt, dass sie als einzige der Schwestern begriff, dass da weit mehr an Dr. Lyle MacAllister war. Er war sensibel und auf eine witzige Art stets zum Flirten aufgelegt. Sogar inmitten all des Entsetzlichen, dem sie sich tagtäglich gegenübersahen, brachte er sie mit seinem wunderbaren Sinn für Humor zum Schmunzeln. Sie verstand gut, weshalb die Wärme seiner Stimme und sein ausgeprägter schottischer Akzent den Patienten solch ein Trost waren. Sie spürte das wahre Ausmaß seines Mitgefühls und seiner Hingabe an die Medizin. Er war ein außergewöhnlicher Mann, und sie hatte sich bis über beide Ohren in ihn verliebt.
Lyle hatte gerade seine Ausbildung in einem Krankenhaus in Edinburgh beendet, als der Krieg ausbrach. Danach hatte er vier Jahre lang im Crichton Royal Hospital in Dumfries, Schottland, gearbeitet, ehe er zusammen mit einigen Kollegen nach England in die Stadt Blackpool ging. Es war eine große Enttäuschung für ihn, dass es ihm in den sechs Wochen seiner Tätigkeit in Blackpool nicht gelungen war, Verbesserungen auf den überbelegten Stationen durchzusetzen, aber die Medikamentenvorräte waren ärgerlich knapp. Ein weiteres Ärgernis, abgesehen von den Verwundeten, die schneller eingeliefert wurden, als man sie behandeln konnte, war die Tatsache, dass die Spanische Grippe Tausende von Menschen in ganz Europa dahinraffte.
In dem Moment, als Lyle Elena Fabrizia zum ersten Mal gesehen hatte, war seine ganze Welt auf den Kopf gestellt worden. Bevor er mit seiner Arbeit am Victoria Hospital begonnen hatte, war er damit zufrieden gewesen, das Leben zu führen, das diejenigen, die ihn liebten, für ihn geplant hatten. Jetzt kam ihm seine Zukunft vor wie ein Stapel Spielkarten, die an einem windigen Tag in alle Richtungen zerstreut worden waren.
»Du solltest deinen Mundschutz tragen, Elena. Allein in den vergangenen vier Tagen
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