Der Glanz des Südsterns: Roman (German Edition)
sind zwanzig Menschen in diesem Krankenhaus an der Grippe gestorben«, sagte Lyle besorgt. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, sie womöglich zu verlieren.
Elena nickte nur. Sie war zu erschöpft zum Denken, zu erschöpft, sich auch nur zu regen. Im ersten Moment nahm sie kaum wahr, dass Lyle sie an sich zog. Aber dann nahm er ihr Gesicht in seine Hände, und sie erwiderte seinen Blick. Lyle zog sie in seine Arme, und ihre Lippen fanden sich wie so oft in der letzten Zeit. Sie hörten die Nachtschwestern auf der Station nebenan, also hatten sie einen Moment für sich allein, aber sie mussten vorsichtig sein. Geheimnisse ließen sich in der betriebsamen Umgebung eines Krankenhauses schwer wahren, und sie beide hatten ihre ganz eigenen Gründe dafür, die Tatsache, dass sie sich ineinander verliebt hatten, nicht bekannt werden zu lassen.
»Ich … muss nach Hause«, stammelte Elena benommen. Nicht auszudenken, wie ihr Vater reagierte, wenn er herausfand, was sie hier tat. Zögerlich löste sie sich aus Lyles Umarmung. »Mein Vater könnte nach mir gucken kommen.«
Luigi Fabrizia war sehr streng. Er erlaubte es Elena nicht, mit Männern auszugehen. Auch wenn Luisa Fabrizia eine englische Mutter hatte, war es doch kein Geheimnis in Elenas Familie, dass ihr Vater von ihr erwartete, dass sie einen Italiener, einen Katholiken heiratete. Wüsste er, dass sie sich in einen schottischen Protestanten verliebt hatte, würde er sie zu seiner Familie nach Italien schicken. Deshalb blieben Lyle und Elena nur wenige gestohlene Momente, die sie genossen, wann immer sie konnten.
»Bevor du gehst, muss ich dir noch etwas sagen, Elena«, erklärte Lyle. Er zog sie weg von der Station, in die Abgeschiedenheit eines kleinen Besucherzimmers, in dem einige Holzstühle standen. Der Raum erinnerte Lyle an die vielen Male, die er den Familien seiner Patienten die schlimmsten Nachrichten überbracht hatte. Doch jetzt musste er mit Elena über etwas anderes reden als Patienten, Krankheiten und Tod. »Ich habe vier Tage Urlaub bekommen, Elena, von morgen früh an«, sagte er ernst. »Zeit genug, um nach Dumfries zu fahren.« Er beobachtete, wie sie darauf reagierte, und sah ihre Enttäuschung darüber, dass sie nicht ein wenig Zeit in diesen Tagen miteinander verbringen würden. »Ich muss zu meiner Familie«, fügte Lyle hinzu.
Verzweifelt wünschte er sich, ihr den wahren Grund für seine Fahrt nach Schottland sagen zu können, aber er durfte nicht Gefahr laufen, sie zu verlieren.
»Natürlich musst du nach Hause fahren«, erwiderte Elena und setzte eine tapfere Miene auf. »Deine Familie muss dich ja unendlich vermissen. Ganz sicher ist sie stolz auf die großartige Arbeit, die du leistest, aber ich werde dich vermissen.«
Lyle zögerte. Sollte er Elena mehr über sein Leben in Schottland erzählen? Nein, er brachte es nicht über sich, sie zu verletzen. »Versprich mir, dass du deinen Mundschutz trägst, wenn ich weg bin«, sagte er ernst.
Trotz ihrer Erschöpfung musste Elena lächeln. »Das werde ich«, antwortete sie.
»Elena!«, rief jemand auf dem Korridor.
Sie riss die Augen auf, als sie die Stimme ihres Vaters erkannte. »Das ist mein Papà«, flüsterte sie panisch. »Ich muss gehen. Auf Wiedersehen, Lyle. Pass auf dich auf, und komm zurück zu mir.«
Noch einmal küsste sie ihn flüchtig und eilte dann hinaus.
Es wurde schon dunkel, als Lyle am späten Nachmittag des kommenden Tages in seiner Heimatstadt Dumfries aus dem Zug stieg. Er verließ den Bahnhof, und es fing wie so oft in Schottland an zu regnen, aber er bemerkte es kaum. Seine Gefühle waren in Aufruhr. Lyle steuerte auf direktem Weg das bescheidene Häuschen seiner Eltern auf der Burns Street an.
Sein Vater Tom MacAllister arbeitete seit fast dreißig Jahren als Arzt. Früher hätte man ihn als unermüdlich beschreiben können, aber Mina MacAllister war sich bewusst, dass die Arthritis ihn langsamer machte. Immer öfter schlief er ein, kaum dass er einmal für ein paar Minuten ausruhen konnte. Im Winter, wenn die Schmerzen ihm zu schaffen machten, war er manchmal ruppig, aber seinen Patienten gegenüber stets voller Mitgefühl. Er konnte dickköpfig sein wie ein alter Esel, und doch überraschte er seine Frau Mina immer wieder damit, wie sensibel er seinen Beruf ausübte. Lyle verstand sich gut mit seinem Vater, und der Respekt und die tiefe Zuneigung, die sie füreinander empfanden, waren über die Zeit stetig gewachsen.
In den dreißig Jahren seiner
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