Der Glanz des Südsterns: Roman (German Edition)
engagierten Arbeit war es durchaus keine Seltenheit gewesen, dass Tom drei Generationen ein und derselben Familie behandelte. Er kümmerte sich um alles, von harmlosen Schnittwunden bis hin zu gebrochenen Herzen. Schon vor dem Krieg hatte er damit begonnen, eine Pastete oder ein Hühnchen, ein paar Eier oder ein Stück Käse als Honorar für seine Dienste zu akzeptieren, wenn die Menschen, die ihn um Hilfe baten, nicht zahlen konnten. Doch jetzt, da die Lebensmittel für alle rationiert waren, lehnte er auch das oftmals standhaft ab. Er wollte nicht, dass ein Kind seinetwegen hungerte. Viele seiner dankbaren Patienten hatten sich deshalb angewöhnt, ihm selbst gezogenes Gemüse vor die Haustür zu legen und dann zu leugnen, dass sie es gewesen waren. Am Vortag war es Lauch gewesen, also hatte Mina Suppe gekocht.
Lyles Mutter stammte ursprünglich aus den Highlands. Sie war eine kräftige, hart arbeitende Frau und oft kurz angebunden mit Leuten außerhalb ihrer engsten Familie. Wer ihr nahestand, kannte ihr weiches Herz und ihre große Liebe zu Tieren. Auch wenn sie selbst wenig zu essen hatten, fand sie immer noch etwas für einen hungrigen streunenden Hund oder eine herrenlose Katze.
Lyles Bruder Robbie war Kaplan bei der Armee. Sie hörten nicht oft von ihm. Sein letzter Brief war aus Italien gekommen, und seine Familie klammerte sich an das Wissen, dass er noch am Leben gewesen war, als er den Brief abgeschickt hatte.
Zu seiner Überraschung traf Lyle bei seiner Ankunft seine jüngere Schwester Aileen zu Hause an. Bei der Arbeit in einer Munitionsfabrik in Newcastle upon Tyne hatte sie sich an der Hand verletzt, und deshalb hatte man ihr zwei Wochen freigegeben.
Nach einem kleinen Schwatz mit Mutter und Schwester über einem dampfenden Teller Lauchsuppe, gefolgt von Hafermehlkuchen und Tee, gingen Lyle und sein Vater auf ein Bier ins Mulligan’s Inn. Eine Weile plauderten sie miteinander über die Leute im Ort und Toms Meinung zu Robbies Arbeit als Kaplan, dann kamen sie auf das Victoria Hospital zu sprechen – auf die Medikamentenknappheit und den Ausbruch von Tuberkulose in Dumfries. Aber Tom spürte, dass Lyle aufgewühlt war, und das führte er nicht auf dessen Arbeit im Hospital zurück. Sein Instinkt funktionierte einwandfrei, wenn es um Menschen, vor allem um seine Familie, ging, und so nahm er an, dass das, was seinem Sohn zu schaffen machte, nichts mit dem Krieg zu tun hatte. Nach einem langen Schweigen brachte er seine Gedanken zur Sprache.
»Dir brennt etwas auf der Seele, mein Junge«, erklärte er sachlich. »Lass hören.« Tom richtete seinen Blick fest auf Lyle.
Plötzlich kam sich Lyle vor, als sei er wieder fünf Jahre alt. Er wusste nicht, was er sagen sollte. »Es ist nichts Wichtiges, Dad. Ich komm schon damit zurecht«, antwortete er. Er war nicht sicher, ob sein Vater ihn verstehen würde.
Tom überlegte einen Moment. »Bestimmt bekommst du die schlimmsten Auswirkungen des Krieges zu sehen, Lyle, da wo du arbeitest. Es ist keine Schande, wenn einen das betroffen macht.«
»Es muss einen einfach betroffen machen, wenn man sieht, wie sinnlos dieser Krieg ist, aber das ist es nicht, was mir auf der Seele brennt, Dad«, gestand Lyle.
»Wenn es nicht der Krieg ist, dann gibt es nur noch eines, das einem Mann die Sinne verwirrt, und das ist eine schöne Frau. Machst du dir Sorgen wegen Millie?«
Lyle trank seinen letzten Schluck Ale und spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Er musste sich seine Schuld von der Seele reden, aber er hatte keine Ahnung, wie sein Vater reagieren würde. »Ich habe mich in eine Schwester aus dem Krankenhaus verliebt«, gestand er, ehe ihn sein Mut verließ. Er sah sich um, wollte sichergehen, dass keiner sein Geständnis gehört hatte, aber von ihnen beiden abgesehen hockten nur noch zwei Männer in einer Ecke der Gastwirtschaft und spielten Karten. »Solche Gefühle habe ich bisher nicht gekannt, Dad. Ich muss immerzu an sie denken, Tag und Nacht.«
Takt war nicht gerade Toms Stärke, aber er nahm sich einen Moment Zeit, um seine Worte sorgfältig abzuwägen. »In Kriegszeiten verhalten sich die Menschen anders, Junge. Sie wissen, dass sie jederzeit von einer Bombe getroffen werden können, also werden sie impulsiv und neigen dazu, nur für den Augenblick zu leben. Gefühle geraten außer Kontrolle.«
»Was willst du damit sagen, Dad? Dass meine Gefühle nicht echt sind?«
Tom sah, dass Lyle gekränkt war. »Deine Gefühle mögen ja echt sein,
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