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Der Glanzrappe

Der Glanzrappe

Titel: Der Glanzrappe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unknown
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entlang weiter.
    In der nächsten Viehbucht entdeckte er die blinde Frau. Sie war noch dicker geworden, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Sie lag auf der Seite, und der unförmige Bauch ließ Arme, Beine und Kopf winzig erscheinen. Ihr Gesicht war entstellt, zeugte von einer schweren inneren Krankheit. Er fragte sich, was Blinde wohl im Schlaf sahen. Er erinnerte sich an sein Mitgefühl für die Frau, damals vor vielen Wochen, in dem ausgebrannten alten Haus, bevor er dort dann alles beobachtet hatte, und auch noch danach, aber jetzt war sie für ihn einfach irgendein Lebewesen. Sie bedeutete ihm nichts, und er wußte, wenn er dieses Gefühl in sich zuließ, würde sie ihm sogar noch weniger bedeuten.
    Er ging weiter, und als die Schatten im Mondlicht wanderten, konnte er sie durch einen Riß in der Bretterwand sehen. Sie lag auf einem Strohlager in einer leeren Viehbucht, eine Decke über sich gebreitet, das lose Haar wirr auf dem nackten Arm. Er sah ihr geduldig zu und wartete darauf, daß sie aufwachte und in seine Richtung schaute.
    Sie spürte im Schlaf, daß da jemand war. Schließlich regte sie sich, setzte sich auf und öffnete die Augen, während das Mondlicht ihr über den Hals strich. Sie hob die Hand, hielt ein Messer darin, das sich mit ihrem Handgelenk langsam drehte, als käme die Bewegung nicht aus dem Arm, sondern aus dem Messer. Sie konzentrierte sich auf das vage Gefühl, das sie geweckt hatte. Sie wußte, da draußen vor der Bretterwand war etwas, ganz dicht bei ihr, und wenn es hereinkam, würde es ein Kampf auf Leben und Tod werden.
    Er sah ihr zu, als sie sich erhob, eine schmale Mädchengestalt in einem schmuddeligen Unterhemd. Das Haar fiel ihr über die Schultern, und sie verschränkte die Arme vor der Brust; es war nur die Klinge des Messers zu sehen, wie ein gefährlicher Stachel, der aus ihrem Körper wuchs. Sie starrte auf die Bretterwand, durch die er hereinlugte, schien aber nicht zu merken, daß tatsächlich jemand auf der anderen Seite stand. Sie legte sich die Decke um die Schultern, trat auf den Gang hinaus und schaute nach den beiden anderen, die nebenan schliefen. Dann ging sie ins Freie, wo er stand. Sie war nicht erstaunt, ihn zu sehen, sondern wirkte, als hätte sie ihn erwartet. Sie ließ das Messer aus der Hand gleiten und ging zu ihm hin, und als sie sich gegen ihn lehnte, um ihm etwas zuzuflüstern, spürte er ihren warmen, verschlafenen Atem auf seinem Gesicht.
    »Du hast mir beim Schlafen zugeschaut«, sagte sie.
    »Ja.«
    »Ich hab dich gespürt«, sagte sie, und ihr Blick glitt über sein Gesicht, suchte nach etwas, was ihr verriet, daß etwas nicht stimmte, denn sie war sich ganz sicher, daß etwas nicht stimmte.
    »Mich?«
    »Ja. Ich hab dich gespürt. Ich hab auf dich gewartet.«
    »Du hast gewußt, daß ich komme?«
    »Warum so ein Gesicht?« fragte sie und legte die Finger auf die Lippen. Sie sah über seine Schultern hinweg auf den pechschwarzen Hengst und wußte, was ihn hergeführt hatte.
    »Ich mach kein Gesicht«, gab er zurück.
    »Ich weiß, warum du gekommen bist.«
    »Hast du geschlafen?« fragte er.
    »Ich würd ’ s nicht Schlaf nennen.«
    »Mein Vater ist tot.«
    »Das tut mir leid«, sagte sie. Sie breitete die Decke aus, um auch ihn darin einzuhüllen. Er trat ohne Zögern auf sie zu, und sie schlang die Arme und die Decke um ihn. Da senkte er den Kopf an ihren Nacken, lehnte sich an sie und ließ sich in der Decke von ihr halten. Sie roch nach Schlaf und Schweiß, nach vielen Tagen ohne Wasser zum Waschen. Sie erklärte ihm, daß alles stirbt, und dann, irgendwann, kommt es zurück. Er spürte ihren warmen Atem an seinem Hals. Über ihnen beendete das Sternenrad langsam seine Runde. Der Morgen war nur noch wenige Stunden entfernt, und er hatte das Gefühl, daß es ein erster Morgen wurde, der Morgen eines neuen Anfangs.
    »Er ist nicht mehr in dieser Welt«, sagte sie, als wäre das eine Erleichterung und ein Segen für ihn.
    »Ja, das stimmt«, antwortete er.
    »Gehst du weg?« fragte sie.
    Er nickte, die Wange noch immer an ihren Hals gedrückt.
    »Nimm mich mit«, sagte sie, »ich muß auch weg.«
    »Ja«, sagte er.
    Ihre Arme schlossen sich fester um seine Schultern, und er zog sie näher an sich. Er war hier, er würde fortgehen, und er würde sie mitnehmen.
    Sie bat ihn, einen Augenblick zu warten, und als sie zurückkam, sagte sie, der Mann sei betrunken eingeschlafen. Dann brachte sie ihm eine Süßkartoffel aus der Asche des

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