Der Glanzrappe
Lagerfeuers. Die Schale war verkohlt, aber als er sie abriß, war das orangefarbene Fruchtfleisch noch heiß.
Vom Hunger überwältigt, schlang er die Kartoffel sofort hinunter.
»Rühr dich nicht vom Fleck«, flüsterte sie und zeigte mit dem Finger auf ihn, als wollte sie ihn da festnageln, wo er stand. Als sie wieder auftauchte, hatte sie ihre ganze Habe in eine alte Reisetasche gepackt und trug außerdem ein kleines Bündel Kleider unter dem Arm. Sie legte alles auf dem Boden ab und hielt ihm dann eine Schere hin. Er nahm sie ihr aus der Hand, und sie beugte sich vor, raffte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und bat ihn, es abzuschneiden.
Die Schere war scharf. Er schnitt ihr den Haarschopf ab, und sie warf ihn weg. Dann bündelte sie das Haar erneut, und er schnitt es noch weiter ab. Jetzt richtete sie sich auf, und er ging um sie herum, schnitt ihr das Haar immer weiter ab, bis es ganz kurz war. Sie strich sich mit den Fingern über den Kopf und meinte, das würde fürs erste reichen.
Dann drehte sie ihm den Rücken zu, ließ die Decke fallen und schob sich das Unterhemd von den Schultern. Sie trug nichts darunter, und ihre weiße Haut schimmerte bläulich im Dunkel. Ihr Körper war zierlich und gelenkig, die Hüften schmal. Auf ihrem langen Rücken zeichneten sich die Knochen deutlich ab, die Schultern, die Rippen, die kaum wahrnehmbaren Konturen ihres Hinterteils, und zwischen den Beinen war eine Lücke, die davon zeugte, wie dünn und staksig sie geworden waren, und er dachte, wie viel mehr Glück er doch auf seinen Streifzügen nach Nahrung gehabt hatte. Doch ihre Bewegungen verrieten Stärke und Zielstrebigkeit.
Sie wollte so rasch wie möglich weg, sagte sie, und das würde sie jetzt auch tun.
Sie rollte das Bündel zu ihren Füßen auseinander, und zum Vorschein kamen eine Jungenhose, ein Leinenhemd und eine Baumwolljacke, ein breiter Ledergürtel, Socken und Schuhe und eine Feldmütze. Ehe sie die Kleider anzog, drehte sie sich um, stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn an. In ihrer Haltung lag eine Verwegenheit, die ihm sagte, sieh ruhig her, wenn du willst. Es war, als forderte sie ihn mit ihrem Körper heraus, als stellte sie ihm unausgesprochen Fragen: Was wirst du mit mir tun? Wie wirst du zu mir sein?
Er antwortete ihr, indem er sich nicht rührte, aber auch nicht wegschaute. Dann blickte er nach Osten, wo bald die Sonne aufgehen würde, und dann hinüber zu seinem Pferd, das mit einem Huf scharrte, und dann sah er sie wieder an, als wollte er sagen, die Zeit drängt, beeil dich, wir müssen los.
Als er zum zweiten Mal in ihre Richtung sah, hatte sie sich gerade die Hose über die Hüfte gezogen und schnallte den Gürtel zu. Sie sagte, sie sei jetzt nicht mehr Rachel für ihn, sondern ein Junge wie er, zur Not auch sein Bruder. Sie sei jetzt Ray. Ihre Mutter habe sie immer so genannt, soweit sie sich erinnern könne. Dann zog sie auch das Hemd und die Jacke an.
Jetzt, wo sie die Entscheidung getroffen hatte und die Flucht bevorstand, konnte es ihr nicht schnell genug gehen. Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu reden. Sie beschwor ihn, zu verstehen, wie wichtig das war, und er bedeutete ihr, daß er verstand.
Sie setzte sich auf den Boden, zog sich erst die Socken und dann die Schuhe an, und als sie sich gerade die Schnürsenkel zubinden wollte, hörten sie ein Rascheln im Stall u nd ein Stöhnen, und dann kam der Mann herausgestolpert. Er mußte sich so dringend erleichtern, daß er die beiden erst wahrnahm, als er die Hose schon aufgeknöpft hatte und der Urinstrahl auf dem Boden verdampfte.
»Keine Bange«, sagte er, als fände er die Situation belustigend.
Er erledigte sein Geschäft, schüttelte sich trocken und knöpfte die Hose wieder zu. Dann kam er auf das Mädchen zu, und als er ihr über das kurzgeschnittene Haar streichen wollte, schlug sie ihn auf die Hand und wich zurück.
»Was ist denn mit deinen Goldlöckchen passiert?« fragte er mit geheucheltem Interesse. »Du weißt doch, daß du nur einen Mann findest, wenn du gut aussiehst.«
Rachel war zur Salzsäule erstarrt, ihr fehlten die Worte. Auch Robey irritierten diese süßliche Stimme, die gekünstelten Gesten. Der Mann wuchs zu einer Gestalt heran, die seine körperliche Größe bei weitem übertraf. Er trat auf, als könnte er über andere Menschen verfügen, als müßten alle anderen sich ihm freiwillig unterordnen. Irgendwo krähte ein Hahn, und das Licht veränderte sich, als wäre ein erster
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