Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Glasmaler und die Hure

Der Glasmaler und die Hure

Titel: Der Glasmaler und die Hure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wilcke
Vom Netzwerk:
aus dem Zelt. Er ging bis zum Wagen, lehnte sich an eines der mannshohen Räder und blinzelte in die Sonne, die am Horizont heraufzog.
    »Warum?«
    Er drehte sich um und stand Thea einen Moment lang schweigend gegenüber.
    »Warum hast du es abgelehnt?«
    »Ich bin kein Wundenflicker, sondern ein Glasmaler.«
    Thea quittierte diese Worte mit einer abschätzigen Handbewegung. »Findest du hier in diesem ganzen Troß auch nur ein einziges Fenster? Ich nicht. Aber ich sehe Menschen, die krank sind und leiden. Sie brauchen eine helfende Hand.«
    Sie trat an ihn heran und legte ihre Hand an seine Wange. Die Wärme war angenehm, trotzdem entzog er sich ihr.
    »Als du vorhin von der Geburt berichtet hast, habe ich endlich wieder das Leben in deinen Augen aufblitzen sehen. Martin, wach endlich auf!«
    »Ich bin wach.«
    Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, du dämmerst seit Wochen in einer Traumwelt dahin. Du versuchst die Vergangenheit zu dir zurückzuholen, aber du hast sie verloren. Wir beide haben sie verloren. Sie ist nichts weiter als eine Illusion.«
    »Was verlangst du? Daß ich Sophia vergesse?«
    »Ich verlange nichts von dir, aber glaubst du wirklich, sie hätte gewollt, daß du hier sitzt und dich in deiner Trübsal verkriechst? Meinst du nicht, sie wäre stolz auf dich, wenn du diese geschickten Finger dazu einsetzen würdest, um anderen Menschen zu helfen.«
    Martin betrachtete seine Hände, die unter dem Eindruck dieser Nacht noch immer leicht zitterten.
    »Ich weiß nicht, ob ich die Kraft dazu aufbringen könnte.«
    »Versuche es! Ich werde dir helfen.«
    In einem Punkt gab er Thea recht. Er hatte sich in dieser Nacht zum ersten Mal seit langer Zeit lebendig gefühlt. Als er den Säugling in seinen Händen gehalten hatte, war er einen Augenblick lang glücklich gewesen.
    »Soll ich Conrad sagen, daß du sein Angebot annimmst?« fragte Thea.
    Martin nickte bedächtig.
    »Gut.« Sie drückte seine Hände und ging langsam zum Zelt zurück.

Kapitel 9
    Zur Mitte des Monats Juli änderte die schwedische Armee ihre Marschrichtung und zog nach Süden. Der kaiserliche Generalissimus Tilly war zuvor mit seinen Truppen in das vom Krieg bislang weitgehend verschont gebliebene Sachsen eingerückt und hatte begonnen, das Land zu plündern. Dieses Vorgehen nahm nun der bislang so zögerliche sächsische Fürst Johann Georg zum Anlaß, das von König Gustav Adolf offerierte Bündnis mit Schweden zu schließen und ihn als seinen Verbündeten zu begrüßen.
    Beide Armeen, die der Schweden und die der Kaiserlichen, bewegten sich unaufhaltsam aufeinander zu.
    Martin schnappte hin und wieder solche Nachrichten auf, wenn Thea ihn bat, ihr eine der immer häufiger verbreiteten Flugschriften vorzulesen. Ihn selbst interessierte die politische Lage nicht sonderlich. Im Grunde kam er sich vor wie jemand, der in einem kleinen Boot der reißenden Strömung eines breiten Flusses ausgesetzt worden war und unweigerlich in die Richtung getrieben wurde, in der sich der Wasserlauf durch das Land zog.
    Die Trauer um Sophia belastete ihn noch immer sehr. Wenn er allein war, brach er oft von einem Moment zum anderen in Tränen aus und glaubte, der Verlust würde ihn zerreißen. In den Nächten wanderte er stundenlang allein umher, zwischen all den Wagen und den fremden Gesichtern, und führte in Gedanken Zwiesprache mit seiner toten Frau, ohne daß ihn dies recht zu trösten vermochte.
    Zumindest zeitweilig fand er ein wenig Ablenkung, denn er mußte sich eingestehen, daß Thea gut daran getan hatte, ihn von Conrads Vorschlag zu überzeugen, sich in denFertigkeiten eines Chirurgen unterweisen zu lassen. Der Feldscher nahm Martin jeden Tag an seine Seite und gewährte ihm einen Einblick in das Wirken der Wundärzte.
    Zunächst bemühte sich Conrad, seinem Schüler das Verständnis für die Beschaffenheit der menschlichen Natur einzuschärfen. Natürlich war Martin die Lehre von den vier Körpersäften nicht gänzlich unbekannt. Jedes Kind wußte, daß eine Mischung aus Blut, Schleim, schwarzer und gelber Galle den Leib und die Konstitution eines Menschen in Einklang hielt. Conrad erläuterte ihm aber auch die Theorie des griechisch-römischen Arztes Galenos, der zu der Auffassung gelangt war, daß das Übermaß eines dieser Körpersäfte sich immens auf den Gemütszustand eines Menschen auswirkte, weshalb die Körpersäfte auch als die »vier Temperamente« bezeichnet wurden. Die Mediziner unterschieden dabei den Sanguiniker, einen

Weitere Kostenlose Bücher