Der Glasmaler und die Hure
lebhaften und frohen Menschentyp; den schwermütigen und verzagten Melancholiker, in dem die schwarze Galle ein Übergewicht gewonnen hatte; den leidenschaftlichen und jähzornigen gelbgalligen Choleriker sowie den behäbigen Phlegmatiker, für dessen Stimmungslage eine übermäßige Menge an Schleim im Blut vermutet wurde.
Nach dieser ersten Lektion ging Conrad es an, Martin die praktischen Arbeitsweisen eines Wundchirurgen zu erläutern. Er machte ihn mit der Anwendung von Sägen, Zangen, Messern, Knochenschabern, Klistieren und Brenneisen vertraut, deren Gebrauch für Conrad so selbstverständlich war wie die Werkzeuge, mit denen Martin einst sein Handwerk als Glasmaler und Kunstverglaser ausgeübt hatte.
Ein Gerät, das Martin zugleich faszinierte und abschreckte, war der verzierte Drillbohrer, der zur Trepanation der Schädeldecke benutzt wurde. Es gab, so führte Conrad aus, mannigfaltige Krankheiten, bei denen dieser Bohrer zum Einsatz kam. Traumatische Kopfverletzungen, langwierigeAugenleiden sowie syphilitischer Knochenfraß machten eine Trepanation des Schädels unabdingbar. Doch diese Behandlung, so lernte Martin, konnte dem Menschen auch zum Schaden gereichen.
»Vor vielen Jahren«, so schilderte ihm Conrad, »suchte mich eine Frau auf, die davon überzeugt war, daß ein Dämon ihren Sohn befallen hatte, der ihm böse Gedanken eingab und seinen Kopf vergiftete. Auf ihr Drängen hin bohrte ich dem Jungen an drei Stellen die Schädeldecke auf, damit der böse Geist hervorkommen sollte. Ich habe jedoch keinen Dämon erkennen können. Nur ein schreiendes Kind, das sich seit diesem Tag schwermütig und phlegmatisch verhielt.«
»Glaubst du denn an den Einfluß von Dämonen?« wollte Martin wissen.
Conrad zuckte mit den Schultern. »Teuflische Gelüste stecken gewiß in vielen von uns. Leider jedoch dienen die dämonischen Mächte für vieles als Erklärung, was in unserer rein menschlichen Natur verborgen liegt. Man sollte stets bestrebt sein, die Leiden der Menschen zu heilen, nicht sie aufgrund eines unhaltbaren Aberglaubens noch zu verstärken. Die Behandlung dieses Knaben war mir eine Lehre, mich nicht von übertriebenen Ängsten vor den Kreaturen der Hölle leiten zu lassen.«
Zumeist begleitete Martin den Feldscher nun, wenn der gerufen wurde. Conrad versorgte Wunden, verabreichte heilsame Klistiere oder entfernte eiternde Zähne. Martin wurde Zeuge, wie sein Lehrmeister einen Leistenbruch operierte, bei dem die Hoden entfernt werden mußten; er befand sich auch an Conrads Seite, als dieser einem schottischen Söldner zwei zerquetschte Finger amputierte, und verfolgte aufmerksam, wie der Feldscher einem Schweden, der vom Pferd gestürzt war, mit einem beherzten Griff die Schulter einrenkte.
Mit der Zeit fand Martin Gefallen an Conrads Ausführungen.Zu Beginn seiner Unterweisung war er sich an dessen Seite unpassend vorgekommen, wie ein Schmied, der einem Bäcker zur Hand gehen sollte. Doch mit jedem Tag gewöhnte er sich mehr an Conrad und mußte sich eingestehen, daß er den knorrigen Mann sehr gerne begleitete.
Mittlerweile ließ Conrad seinen Gehilfen auch einige einfache Behandlungen selbst ausführen. Zunächst wies er Martin an, ihn dann und wann zur Ader zu lassen, um die Körpersäfte in Einklang zu bringen und so seine Gicht zu lindern. Während der ersten Versuche zitterten Martins Hände noch ein wenig, wenn er mit dem Skalpell in Konrads Venen stach, doch bald schon führte er das Messer so sicher wie einst den Schneidediamanten, mit dem er das Glas geteilt hatte.
Wann immer Conrad von der Gicht geplagt wurde, erhielt Martin Gelegenheit, unter der Aufsicht seines Lehrers die neuen Fertigkeiten auch an anderen Patienten unter Beweis zu stellen. Er nahm kleine Eingriffe vor, nähte Wunden oder kümmerte sich um Knochenbrüche, die eingerenkt und geschient werden mußten. In diesem Troß, in dem sie an der Seite mehrerer zehntausend Menschen reisten, gab es an jedem Tag Gelegenheit, an Erfahrung zu gewinnen, auch wenn der Lohn, den sie für ihre Arbeit erhielten, zumeist äußerst karg ausfiel.
»Warum bist du ein Arzt geworden?« fragte Martin an einem Tag im August, als er Conrad wieder einmal zur Ader ließ. Das dunkle Blut plätscherte gemächlich in eine Zinkschale, während der Feldscher aus einem Weinkrug trank.
»Ein Arzt?« brummte Conrad abfällig. »Nimm eines zur Kenntnis: Jeden der mich als Arzt bezeichnet, den nenne ich eine ausgemachte Schafsnase.«
»Warum?«
»Weil
Weitere Kostenlose Bücher