Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Glasmaler und die Hure

Der Glasmaler und die Hure

Titel: Der Glasmaler und die Hure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wilcke
Vom Netzwerk:
auf das Gesicht des Knaben. Sie vernahm das widerlich knirschende Geräusch der Knochensäge. Auf einmal zeigte der Junge eine Regung und stieß einen spitzen Schrei aus, der sich schmerzhaft in Theas Ohren bohrte. Sie suchte rasch nach einem Holzstück und steckte es dem Jungen zwischen die Zähne.
    Plötzlich schien sich alles um sie zu drehen. Ihre Knie knickten ein. Sie stützte sich auf dem Amputationstisch ab, um nicht zu stürzen.
    »Was ist mit dir?« fragte Martin.
    »Ein leichter Schwindel. Nicht schlimm.«
    Martin betrachtete sie skeptisch. »Du solltest eine Pause einlegen. Was nutzt es schon, wenn du uns hier auch noch zusammenbrichst. Geh kurz nach draußen!
    Sie sah ein, daß er recht hatte. Auf wackligen Beinen ging sie durch die Kirche und mußte aufpassen, auf keinen der unter ihr kauernden Verletzten zu treten, die fast den gesamten Boden bedeckten.
    Am Portal angelangt, sog sie hastig die frische Luft ein. Erschüttert betrachtete sie den Kirchvorplatz, auf dem notdürftige Zeltdächer errichtet worden waren, um die verwundeten Soldaten vor der Hitze des Spätsommers zu schützen. Die schmerzverzerrten Gesichter der Männer waren vom Pulverdampf so schwarz gefärbt wie die Köpfe der Mohren. Auch hier fiel das Heer der Schmeißfliegen über die Söldner her. Das Brummen und Surren mischte sich mit dem Stöhnen der Sterbenden zu einer monotonen Melodie des Leidens.
    Abseits der Verwundeten hatte man die langen Reihen der Toten niedergelegt. Einige Männer waren damit beschäftigt, die Leichen aus der Kirche zu schaffen und sie wie totes Vieh zusammenzutragen. Die verrenkten Leiber waren mehrfach übereinandergeschichtet worden und bedeckten bereits die Hälfte des Platzes. Auf den Kadavern hockten die Krähen, die sich am Fleisch der Toten labten.
    Die Schlacht zog sich inzwischen schon mehrere Stunden lang hin. Das anfängliche Donnern der Kanonen war dem Lärm von Trompetensignalen und Musketenschüssen gewichen. Mit dem Verlauf der Schlacht änderten sich auch die Art der Verletzungen. In der ersten Phase der Schlacht waren den Soldaten von umherpreschenden Geschützkugeln Arme und Beine abgerissen worden. Nun aber wurden sie in Nahkämpfe verwickelt und wiesen Verletzungen von Musketengeschossen auf oder Wunden, die ihnen mit Schwertern oder Spießen beigebracht worden waren. Einige, die zu ihnen geschafft wurden, trugen die roten Feldfarbender Kaiserlichen. Mehrere Feldscher ignorierten die verletzten Gegner und verweigerten ihnen jegliche Hilfe, doch Thea war erleichtert, daß sich Conrad und auch Martin um jeden kümmerten, der zu ihnen gebracht wurde, gleichgültig, ob der Mann unter schwedischer oder kaiserlicher Fahne gekämpft hatte.
    Thea holte noch einmal tief Luft und wollte in die Kirche zurückkehren, als weiterer Lärm erklang. Sie vernahm ein lautes Hufschlagen, das zu einem regelrechten Tosen anschwoll. Sie befürchtete, daß die Kaiserlichen die schwedischen Linien durchbrochen hatten. Eine schreckliche Angst ergriff sie. Würden die kaiserlichen Söldner in den rückwärtigen Linien ein Blutbad anrichten? Die Bilder, die sie seit ihrer Flucht aus Magdeburg verfolgten, drängten sich vor ihre Augen. Sie klammerte sich hilfesuchend an das Kirchenportal. Ein ganzes Regiment preschte aus dem Wald hervor. Thea erkannte an der Kleidung der Offiziere und an den Feldzeichen, daß es nicht die Kaiserlichen waren, sondern die Sachsen, die offensichtlich die Flucht ergriffen hatten. Thea atmete auf, aber gleichzeitig plagte sie die Sorge, daß durch die Flucht der Sachsen die Schlacht für die Schweden verloren war.
    Mehrere Regimenter stürmten panisch durch den Ort und suchten das Weite. Einige Männer jedoch sprangen von ihren Pferden, stürzten sich auf die Leichen und die Verwundeten und bestahlen sie. Auch die ärmlichen Lehmhütten wurden geplündert. Mehrere Sachsen rissen die letzten Branntweinrationen an sich, die dafür bestimmt gewesen waren, die Schmerzen der Leidenden zu lindern.
    Kurze Zeit später war alles vorbei, und die Sachsen hatten den Ort verlassen. Fassungslos schaute Thea der Staubwolke in der Ferne nach und wünschte die treulosen Verbündeten zur Hölle.
    Sie wartete ab, ob noch weitere Männer aus dem Wald hervorbrachen, doch weder die Schweden noch Kaiserlichetauchten zwischen den Bäumen auf. Allem Anschein nach dauerte die Schlacht auch nach der Flucht der Sachsen weiter an.
    Thea kehrte in die Kirche zurück, wo der schneidende Gestank mittlerweile noch

Weitere Kostenlose Bücher