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Der Glasmaler und die Hure

Der Glasmaler und die Hure

Titel: Der Glasmaler und die Hure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wilcke
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an die Tür. Sein kahlköpfiger Onkel Robert öffnete ihm, bedachte Martin mit einem mürrischen Blick und sagte: »Scher dich fort. Wir geben keine Almosen.«
    Er wollte die Tür bereits wieder zudrücken, doch Martin stemmte kraftlos seine Hand dagegen.
    »Onkel, weißt du denn nicht, wer ich bin?«
    Sein Gegenüber musterte ihn aus schmalen Augen. Martin fragte sich, ob er sich wirklich so sehr verändert hatte, daß sein eigener Onkel ihn nicht mehr erkannte?
    Dann endlich wich die Ablehnung aus Roberts Zügen und machte einem verwunderten Ausdruck Platz.
    »Martin? Du bist Martin?«
    Martin nickte.
    »Wir haben geglaubt, du wärest tot. Erschlagen von Tillys Mordbrennern.«
    Martin schüttelte den Kopf. »Wie du siehst, bin ich ihnen entkommen.«
    »Und du bist wirklich kein Geist?«
    Er reichte dem Onkel eine Hand.
    »Bist aus Fleisch und Blut, soviel steht fest«, rief Robert erleichtert. Er schob Martin in die Diele, in der die Schuhmacherwerkstatt und ein Ziegenstall untergebracht waren. Ein strenger Geruch nach Leder hing im Raum.
    Robert rief nach seiner Frau. »Weib, komm herunter und schau dir an, wer an unsere Tür geklopft hat.«
    Martins beleibte Tante Lisa kam schnaufend die Treppe hinuntergeeilt, betrachtete ihn einen Augenblick lang zweifelnd, dann erkannte auch sie ihren Neffen und drückte ihn an sich. Sie führte Martin in die Küche und füllte ihm einen Teller mit einer wohlriechenden Kohlsuppe.
    »Iß, soviel du magst, Martin. Du schaust aus, als wärest du kurz vor dem Verhungern«, meinte sie und schnitt noch eine dicke Scheibe Schwarzbrot ab.
    »Sehe ich wirklich so schlimm aus?«
    Robert holte einen Spiegel herbei und hielt ihn vor MartinsGesicht. Nun begriff Martin, warum die beiden ihn nicht sofort erkannt hatten. Er sah mager aus. Seine Wangen waren eingefallen und die Augen von dunklen Rändern gezeichnet. Ein struppiger Bart bedeckte sein schmutziges Antlitz.
    »Wo ist deine Frau?« wollte seine Tante wissen.
    Martin zögerte kurz, dann berichtete er ihnen in knappen Sätzen, was in Magdeburg geschehen war. Er erzählte Robert und Lisa auch, daß er einige Monate mit der schwedischen Armee durch das Land gezogen und schließlich in der Hoffnung nach Halberstadt gekommen war, dort auf Sophias Mörder zu stoßen.
    »Deine eigenen Vettern«, raunte die Tante kopfschüttelnd. »Ich danke dem Herrn, daß er uns nicht mit solcher Brut geschlagen hat. Aber du solltest sie besser vergessen. So viele Menschen sind in diesem Krieg zu Mördern geworden. Wende dich den Lebenden zu, Martin, nicht den Toten.«
    Robert rieb sein Kinn. »Weiß dein Bruder Sebastian, daß du aus Magdeburg fliehen konntest?«
    Martin stutzte. »Sebastian? Er lebt?«
    »Er suchte uns einige Tage nach der Katastrophe auf. Was dich betrifft, so nahm er an, du wärest getötet worden.«
    Martin schob den Teller beiseite. Er war zu aufgeregt, als daß er einen weiteren Bissen hinuntergebracht hätte. »Wo ist er? Hier in Oschersleben?« stieß er hastig hervor.
    Lisa legte ihre Hand auf seinen Arm und lächelte. »Er hält sich in Wittenberg auf. Und es geht ihm gut.«
    Obwohl er den Glauben an die Barmherzigkeit Gottes verloren hatte, verspürte Martin plötzlich den Drang, eine Kirche aufzusuchen und dem Herrn für das Leben seines Bruders zu danken.
    »Ich will ihn sehen«, sagte Martin. »So schnell wie möglich.«

Kapitel 13
    Martin verbrachte die gesamte folgende Woche im Haus seiner Verwandten in Oschersleben. Zwar drängte es ihn, endlich aufzubrechen, um in Wittenberg seinen totgeglaubten Bruder aufzusuchen, doch seine Kräfte waren erschöpft, und so ruhte er zunächst einige Tage. Lisa erwies sich als ausgezeichnete Köchin, die dafür Sorge trug, daß Martin am Ende dieser Woche bereits wieder an Gewicht zugelegt hatte. Nach einem Bad und einer Rasur glich sein Spiegelbild auch endlich wieder seinem Äußeren aus früheren Zeiten.
    Robert berichtete Martin, daß Magdeburg noch immer mit einer kaiserlichen Garnison belegt war. In der Stadt hielten sich allerdings nur wenige Soldaten auf. Keine der Kriegsparteien schien ein größeres Interesse am einstmals so stolzen Magdeburg zu haben. Die zerstörte Stadt besaß keinen militärischen Wert mehr. Zwar hatten die Kaiserlichen die beschädigten Wallanlagen an der Elbseite neu errichten lassen, doch diese Mauern schützten nur mehr ein Ruinenfeld, in dem neben der kaiserlichen Besatzung lediglich einige Dutzend Bürger ausharrten, die in armseligen Hütten

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