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Der Glasmaler und die Hure

Der Glasmaler und die Hure

Titel: Der Glasmaler und die Hure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wilcke
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meinst.« Sebastian stellte den Pokal ab und schaute einen Moment lang zum Fenster. »Auch ich schrecke oftmals aus dem Schlaf auf, wenn ich in meinenTräumen nach Magdeburg zurückkehre. Immer wieder erlebe ich den Moment, als das Portal des Doms geöffnet wurde und wir die Ruinen der Stadt vor uns sahen. Meine Vorstellungskraft hatte nicht ausgereicht, mich darauf vorzubereiten, was uns außerhalb der schützenden Mauern des Doms erwarten würde. Unser Magdeburg gab es nicht mehr. Wir blickten auf ein weites Feld schwelender Ruinen, zwischen denen die Haufen verkohlter Leichen zusammengetragen worden waren.«
    Sebastian wischte sich über das Gesicht und berichtete mit leiser Stimme davon, wie er das Grauen überstanden hatte.
    »Wir harrten mehrere Tage im Dom aus. Einige tausend Menschen, die hinter den verriegelten Türen die Schreie der Bürger, das Johlen der mordgierigen Plünderer und den Gestank des verbrannten Fleisches ertragen mußten, ohne zu wissen, was wirklich in der Stadt vor sich ging. Bereits nach zwei Tagen waren unsere Vorräte aufgebraucht. Vor allem der Durst machte uns schwer zu schaffen. Sogar das geweihte Wasser war aus den Taufbecken geschöpft und getrunken worden, doch noch immer wagte es niemand, die Türen zu öffnen und den Schutz des Gotteshauses aufzugeben.
    Am vierten Tag wurde das Domportal von den Kaiserlichen aufgebrochen. Todesangst erfaßte uns, denn wir befürchteten, daß die Soldaten in ihrer Raserei auch diesen geweihten Ort schänden und uns alle erschlagen würden.
    Ich schloß mich einer Abordnung an, die aus dem Dom trat und sich den Kaiserlichen entgegenstellte. Ein stattlicher Herr trabte in Begleitung ranghoher Offiziere auf uns zu. Die Männer neben mir raunten seinen Namen: Tilly. Ich konnte in den Augen des Generalissimus die Trauer um das stolze Magdeburg lesen, denn die Zerstörung der Stadt hatte den Feldherrn um eine wichtige Basis gebracht.
    Es ist wohl vor allem dem Mut des Dompredigers Dr. Bake zu verdanken, daß uns Überlebenden ein qualvoller Tod erspart blieb. Bake warf sich vor Tilly auf die Knie und rezitierte einen ergreifenden Vers des Dichters Vergil, den er auf Magdeburg abwandelte.«
    Sebastian rief sich die Worte in Erinnerung:
»Das ist der Tag des Verderbs und des unabwendbaren Schicksals Magdeburgs. Trojaner waren wir, Ilion war und der Elbestadt strahlender Ruhm.«
    Er schaute auf. »Bake ersuchte um Gnade für die im Dom ausharrenden Magdeburger. Tilly, den der Vergleich mit der Zerstörung Trojas beeindruckt hatte, erklärte die Plünderung der Stadt für beendet und verschonte das Leben der Menschen im Dom. Mehr als dreitausend Seelen wurden an diesem Tag gerettet. Man zwang uns, die Asche der Toten auf die Karren zu schaufeln und in die Elbe zu kippen. Zehn Tage lang verrichteten wir diesen schrecklichen Dienst und luden mit Spaten oder mit unseren bloßen Händen die sterblichen Überreste der Magdeburger Opfer auf die Gefährte, die das Wasser der Elbe schon bald schwarz färbten.
    Ich suchte das Haus unserer Familie auf, das ebenfalls ein Opfer der Flammen geworden war. Inmitten von Mauerresten und verkohlten Holzbalken verschaffte ich mir Zugang zu den Kellerräumen, doch da ich auch dort auf keine Spur von dir oder Sophia stieß, nahm ich an, ihr wäret im Feuer umgekommen.
    Die meisten der Überlebenden flohen schon bald von diesem Ort der Tränen. Auch ich kehrte Magdeburg in den ersten Junitagen den Rücken und reiste zu unseren Verwandten nach Oschersleben, die mir Unterkunft gewährten. Im August erreichte mich der Brief eines befreundeten Predigers, den es nach Wittenberg verschlagen hatte. Er unterbreitete mir die Offerte, in der Stadt unseres Reformators als Prädikant tätig zu werden.«
    Sebastian leerte seinen Pokal. Er zog seine Schuhe aus und legte die Füße an den Ofen. »Nun kennst du meine Geschichte«, meinte er. »Ich glaube, es ist an der Zeit, daß du mir berichtest, wie es
dir
seit unserer letzten Begegnung ergangen ist.«
    »Willst du das wirklich wissen?«
    »Natürlich.«
    Martin verspürte das starke Bedürfnis, all das auszusprechen, was auf seiner Seele lastete. Also schilderte er Sebastian ausführlich, was mit ihm in den vergangenen neun Monaten geschehen war. Er berichtete ihm davon, daß Rupert ihn niedergeschossen und Sophia nach ihrem Tod geschändet hatte, und daß er erst Wochen später im Troß der schwedischen Armee aus seinem Fieber erwacht war. Dann erzählte er Sebastian von Thea, die ihm

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