Der Glasmaler und die Hure
Gedanken, und die Erinnerung daran, daß sein Kind zum Weihnachtsfest auf die Welt gekommen wäre, machte sein Herz schwer. Er verspürte den Drang, die Wut über das Schicksal, das ihn ereilt hatte, laut herauszuschreien, doch er hielt sich zurück, weil er bemerkte, daß er nicht allein war. Nicht weit von ihm hockte Amschel Geiger vor acht Kerzen, die er in einer Reihe auf die Reling gestellt hatte. Martin war aufgefallen, daß der Jude genau an diesem Platz bereits seit mehreren Abenden eine Art Ritual befolgte.
Dies war die fünfte Nacht, in der er die Kerzen aufstellte. Am ersten Abend hatte er nur die erste Kerze entzündet, dann jeweils eine weitere, und heute nun kniete er vor fünf Lichtern und sang dabei leise.
Amschel wandte sich zu Martin um und nickte.
Martin trat näher. »Ich bin wohl nicht der einzige, der das Weihnachtsfest in Ruhe und Abgeschiedenheit verbringen möchte.«
Amschel lachte kurz auf. »Ihr unterliegt einem Irrtum, mein Freund. Wir Juden feiern kein Weihnachten. Euer Messias Jesus besitzt für uns nicht die Bedeutung, die ihrChristen ihm beimeßt. Er ist für uns kein Religionsstifter, sondern nur ein Mann, der versucht hat, die jüdische Religion zu reformieren. Ähnlich wie euer Doktor Luther mit der katholischen Lehre verfahren ist.«
Martin hockte sich zu ihm. »Diese Kerzen – warum entzündet ihr jeden Abend eine weitere?«
»Ich feiere Chanukka.« Amschel seufzte. »Diese schlichten Kerzen sind wenig angemessen. In meinem Haus in Torgau besitzt meine Familie einen prächtigen achtarmigen Leuchter, mit dem seit Generationen das Lichterfest zelebriert wird. Ich hatte gehofft, rechtzeitig dort einzutreffen, um diese Tage mit meiner Frau und meinen Kindern zu verbringen.«
»Was ist das für ein Fest?« wollte Martin wissen.
»Chanukka erinnert an ein Wunder aus längst vergangener Zeit. Einst vertrieben jüdische Krieger die hellenistischen Syrer aus ihrem Land. Sie reinigten den Tempel und weihten ihn dem einen und einzigen Gott, doch es fand sich nur ein kleiner Krug mit geweihtem Öl, gerade genug für einen Tag. Dennoch entschlossen sich die Priester, den großen Leuchter, die Menora, zu entzünden. Der Legende nach brannte das Öl auf wundersame Weise acht Tage lang, genau die Zeit, die es brauchte, bis neues Öl geweiht und zum Tempel geschafft worden war. Aus diesem Grund beginnen wir Juden damit, am 25. Kislew nach unserem Kalender, an jedem Abend vor Chanukka jeweils eine weitere Kerze zu entzünden, bis am achten Tag alle Lichter brennen.«
»Und ihr dankt damit eurem Gott«, meinte Martin.
»Dafür, daß er uns an seinen Wundern teilhaben läßt und aus der Gefahr errettet.« Der Jude musterte Martin eindringlich. Dann sagte er: »Ihr seht traurig aus. Was bedrückt Euch?«
»Die Tatsache, daß Gott mich errettet haben mag, nicht aber die Menschen, die ich geliebt habe.«
»Ich vermute, Euch ist großes Leid zugestoßen.«
Martin zögerte mit einer Antwort. Dann sagte er nur: »Ich stamme aus Magdeburg. Nun habe ich keine Heimat mehr.«
Amschel Geiger zog eine traurige Miene. »Ihr teilt das Schicksal des jüdischen Volkes, mein Freund. Auch uns wurde vor sehr langer Zeit die Heimat genommen. Wir fühlen in uns eine große Sehnsucht nach dem gelobten Land unserer Vorväter. In unseren Sitten und Gebräuchen, in all unseren Liedern und Gedichten bewahren wir die Erinnerung an das von Gott verheißene Land. Wir zogen in die Welt hinaus, doch tragen stets die Heimat in unseren Herzen mit uns, wohl wissend, daß man uns als Fremde ansieht und dafür haßt, daß wir den christlichen Glauben ablehnen.«
Der Jude seufzte. »Vor vielen Jahren mußte ich mit ansehen, wie eine haßerfüllte Menge die Frankfurter Judengasse plünderte. Sie prügelten auf uns ein wie auf tolle Hunde, und alle Juden wurden aus der Stadt verjagt. Mehr als tausend Kinder Israels mußten Frankfurt verlassen. Doch selbst an diesem traurigen Tag konnte ich es deutlich spüren, daß der Eine und Wahrhaftige über uns wachte. Unser Volk leidet seit Jahrhunderten unter dem Haß der Christen. Doch Gott lehrt uns, jeden Augenblick als heilig anzusehen. Jede noch so profane Handlung heiligt das Leben und trägt zur Einheit der Welt bei. Das hilft uns, den Kummer zu ertragen.«
Seine Worte konnten Martin nicht recht aufmuntern. Amschel Geiger schien dies nicht verborgen zu bleiben, denn er lächelte und sagte: »Wenn Euch unsere Lehre nicht zu trösten vermag, dann verweilt einfach ein wenig an
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