Der Glasmaler und die Hure
hausten, die sie zwischen den Trümmern errichtet hatten.
Ausgestattet mit reichlich Verpflegung und einem großzügigen Kredit aus der Börse seines Onkels, verließ Martin Oschersleben Anfang Februar. Er ritt nach Osten auf die Elbe zu. Am Tag darauf erreichte er eine Weggabelung. Obwohl er zunächst entschlossen gewesen war, Magdeburg zu meiden, führte er Eris schließlich doch in nördliche Richtung und nahm einen Umweg von mehrerenStunden in Kauf, um einen Blick auf die Ruinen der Stadt zu werfen.
Von einer entfernten Anhöhe aus konnte er Magdeburg überschauen. Was er sah, erschütterte ihn und trieb Tränen in seine Augen. Einzig der schmale Bereich zwischen dem Dom und dem Kloster Unserer Lieben Frauen war unversehrt geblieben, ansonsten blickte er ausschließlich auf niedergebrannte Häuser und die rußgeschwärzten steinernen Skelette der Kirchen, die aus dieser Ödnis ragten. Auf dem Domplatz machte er mehrere Söldner aus, die dort biwakierten und um ihre Feuer hockten. Zivilisten konnte er keine erkennen, und nur wenige Ofenrohre schickten ihren Rauch in den Himmel.
Eine Weile betrachtete Martin dieses Zeugnis menschlicher Zerstörungswut, trauernd um die Schönheit und den Glanz des früheren Magdeburgs. Dann führte er Eris die Anhöhe hinab und ritt auf die Elbe zu. Er überlegte kurz, ob er sich in die Stadt begeben sollte, doch schon der Anblick aus der Ferne hatte ihn so traurig gestimmt, daß er darauf verzichtete, mit dem Elend aus der Nähe konfrontiert zu werden.
Von einer Fähre ließ er sich zum östlichen Elbufer übersetzen. Die Umgebung hier, auch wenn sie von Schnee bedeckt war, legte noch immer ein deutliches Zeugnis von der Belagerung ab, die mittlerweile neun Monate zurücklag. Martin passierte die tiefen Schanzgräben und erreichte ein weites Feld, auf dem sich wohl einst das Hauptlager der Kaiserlichen befunden hatte. Zahlreiche Erdlöcher und zerfallene Zweigdächer ließen erahnen, unter welchen Bedingungen Tillys Soldaten hier wochenlang gehaust hatten. Nicht weit entfernt von dem ehemaligen Lager entdeckte er einen Acker, auf dem Hunderte Skelette aus dem Boden ragten. Der Herbstregen hatte die obere Erdschicht fortgeschwemmt und die Leichen der kaiserlichen Söldner ihrer Totenruhe beraubt.
Ihm kam in den Sinn, wie er mit Sebastian von der Domgalerie aus das riesige Heer betrachtet hatte. Damals hatte er geglaubt, eine solch gewaltige Armee könne von nichts und niemand aufgehalten werden. Monate später war er bei Breitenfeld eines besseren belehrt worden. Wie viele der Landsknechte, die hier vor Magdeburg ausgeharrt hatten, mochten ihr Blut auf dem Schlachtfeld gegen die Schweden vergossen haben? Ihre Zahl reichte gewiß in die Tausende.
Der Gedanke gab ihm ein Gefühl von Genugtuung. Doch schon im nächsten Moment schämte er sich dieser Häme.
Martin folgte dem Lauf der Elbe und erreichte nach einem zweitägigen Ritt die Stadt Wittenberg, aus deren Silhouette elf Wachtürme aus den Befestigungswerken hervorragten.
Er passierte das westliche Tor und begab sich zum Stadtkern, der von schmucken Patrizierhäusern und einem prächtig verzierten Ratsgebäude geprägt wurde. Auch die Straßen waren gut gepflastert und nur an wenigen Stellen beschädigt.
Vor der Kirche Sankt Marien saß er ab. Sein Onkel Robert hatte ihm gesagt, daß sich Sebastian in den Dienst dieser einst von Martin Luther bevorzugten Predigtkirche gestellt hatte. Martin erinnerte sich daran, daß Sebastian schon als junger Bursche Wittenberg bereist und ihm von der spirituellen Präsenz des Reformators Luthers berichtet hatte, die in diesem Gotteshaus auch lange nach dessen Ableben angeblich deutlich zu spüren war.
Martin band Eris’ Zügel an einen Baum in der Nähe und betrat das Gotteshaus. Von dem beschworenen lutherischen Geist bemerkte er nichts, aber dennoch kniete er vor dem mit bunten Bildtafeln geschmückten Altar nieder und senkte demütig das Haupt. In den vergangenen Wochen hatte er oft mit Gott gehadert, ja sogar an seiner Existenz gezweifelt. Nun sprach er in Gedanken zum Herrn undversicherte ihm einen Wandel in ihrem zerrütteten Verhältnis, wenn er denn tatsächlich seinen verloren geglaubten Bruder in die Arme schließen konnte.
Als wolle Gott ihm Antwort schicken, schallte bereits nach wenigen Momenten Sebastians Stimme durch das Kircheninnere. Doch die zornigen Zurechtweisungen galten nicht Martin, sondern zwei Kindern, die sein Bruder an den Ohren gepackt hatte und durch
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