Der Glasmaler und die Hure
dem Gefährt und hoben ihn auf die Ladefläche, wo bereits rund ein Dutzend grotesk verrenkter Leichen mit toten Augen in den Himmel starrte. Der in Lumpen gekleidete Kutscher gab nur ein Brummen von sich und faßte an seine Hutkrempe, als wollte er sich für diese zusätzliche Ladung bedanken. Dann schlug er erneut die Glocke und trieb sein Pferd an. Katharina entfernte sich rasch, doch Thea blieb noch stehen und schaute dem Karren nach. Es war gut, daß sie sich die Mühe gemacht hatte, den Stoff um den ausgezehrten Körper zu nähen. Der Knabe war die einzige Leiche auf diesem Gefährt, die mit einer gewissen Würde die letzte Reise antrat.
Thea wandte sich um und ging zu ihrem Quartier zurück. Katharina hatte das Krankenlager des Knaben inzwischen mit Öl übergossen und in Brand gesteckt. Dunkler Rauch stieg vor Katharinas ausdruckslosem Gesicht in dieHöhe. Thea fragte sich wie so oft, welchen Gedanken Conrads Schwester nachhängen mochte. Seit dem Tod des Feldschers waren zwei Monate vergangen. Katharina hatte sich ihre Trauer nur selten anmerken lassen, doch in vielen Nächten hatte Thea sie leise weinen und Conrads Namen flüstern hören. Im Grunde beruhigte es Thea, daß Katharina zu diesen Tränen fähig war.
»Wann wird wohl uns dieser Karren fortschaffen?« fragte Katharina nun, ohne den Blick vom Feuer zu wenden.
Thea legte einen Finger vor den Mund und bedeutete ihr zu schweigen. »Es bringt Unglück, so etwas auszusprechen.«
»Das Unglück ist doch schon längst über uns hereingebrochen.«
Thea wußte nichts darauf zu erwidern. In ihrer Situation von einem Unglück zu sprechen kam einer heillosen Untertreibung gleich. Die Verhältnisse in diesem Lager und in der Stadt konnten nur als Strafgericht Gottes bezeichnet werden.
Wehmütig erinnerte sich Thea an die Zeit, die diese Armee vor den Toren Münchens verbracht hatte. Sie waren gut versorgt worden, kaum jemand von ihnen hatte hungern müssen, und es waren auch keine Seuchen ausgebrochen. Mehrere Wochen hatten sie in dieser trügerischen Ruhe verbracht, doch dann waren Gerüchte laut geworden, daß der Feldherr Wallenstein mit der größten Armee, die jemals über deutschen Boden gezogen war, auf den fränkisch-bayerischen Raum zumarschierte. Wenige Tage darauf brach die schwedische Armee auf, um den wichtigen Versorgungsstützpunkt Nürnberg zu verteidigen. Tausende Bürger, Bauern, Weiber, Kinder und Soldaten wurden herangezogen, um rund um Nürnberg einen gewaltigen Verteidigungswall aus Schanzen, Gräben und Mauern zu errichten, der eine Erstürmung Nürnbergs durch das kaiserlicheHeer verhindern sollte. Zudem wurden die Mauern und Befestigungsanlagen der Stadt so sehr verstärkt, daß Nürnberg einem riesigen Felsmassiv glich.
Mehr als achtzigtausend Menschen aus dem Umland hatten sich mit voll beladenen Karren und ihrem gesamten Viehbestand in die Stadt geflüchtet, wo sie auf engstem Raum in den verdreckten Straßen unter der Sommerhitze litten, die den Gestank der Fäkalien, Viehkadaver und Menschenleichen unerträglich werden ließ. Zudem machte ihnen ein Heer von Stechmücken und Bremsen zu schaffen, das über Mensch und Tier herfiel und ihnen selbst in den Nächten noch zusetzte.
Thea, Martin und Katharina lebten dort, wo sich der größte Teil des Trosses niedergelassen hatte. Sie hatten ihr Quartier hinter den Schanzen, aber vor der Stadtmauer aufgeschlagen, wo die Luft besser und die Krankheiten noch nicht so sehr verbreitet waren.
Seit nunmehr einem Monat schon wurden sie von dem kaiserlichen Heer belagert. Wallenstein verzichtete darauf, die Stadt stürmen zu lassen, und zog es vor, die Verteidiger der Stadt auszuhungern.
Die Versorgung der Menschen in Nürnberg brach nach kurzer Zeit zusammen. Zunächst schlachtete man das gesamte Vieh, da es kein Futter für die Tiere mehr gab. Dann aber gingen die Salzvorräte zur Neige, und das Fleisch verdarb ungepökelt in der Hitze. Die Ruhr und die schwarzen Blattern brachen aus und rafften die ausgelaugten und hungernden Menschen an jedem Tag zu Hunderten dahin. Einzig die Ratten schienen sich beständig zu vermehren und strömten in gewaltigen Rudeln durch die Straßen der Stadt und durch das Heerlager vor den Toren Nürnbergs.
Auch Thea, Martin und Katharina hungerten. In ihrer Not hatten sie bereits schweren Herzens all ihre Hühner und die Ziege geschlachtet. Sie hatten es sogar in Betracht gezogen, einen der Zugochsen zu töten, doch da es keinSalz mehr gab, wäre das
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