Der Glaspavillon
Geständnis abgelegt hatte, rief mich um neun Uhr ein Reporter der Daily Mail an. Die Zeitung hatte über eine sogenannte
»Quelle« erfahren, daß Alan Martello eine Anklage wegen Mordes an seiner schwangeren Tochter drohte. Fünfundzwanzig Jahre nach der Tat, und zwar weil ich mich plötzlich daran erinnert hatte, Zeugin des Verbrechens gewesen zu sein. Ob ich bereit wäre, der Zeitung ein Interview zu geben? Ich war so perplex, daß ich mich erst einmal hinsetzen mußte, bis ich meine Stimme wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte. Wenn Alan angeklagt wurde, sagte ich, dann meines Wissens aufgrund seines Geständnisses. Aber der Mann ließ nicht locker und wollte wissen, ob es denn wahr sei, daß ich den Mord mit eigenen Augen gesehen hatte.
Einen Augenblick konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Sollte ich lügen? Oder war es besser, wenn ich mich kooperativ zeigte? Mir fiel mein letzter Auftritt in der Öffentlichkeit ein, als ich versucht hatte, mein Wohnheim zu verteidigen, das doch dem Allgemeinwohl dienen sollte. Jetzt wußte ich, was ich zu tun hatte. Ich riet dem Reporter, er solle sich am besten direkt an die Polizei wenden. Dann kam mir eine Idee. Da die Anklage wahrscheinlich unmittelbar bevorstand, war die Angelegenheit anhängig. Obwohl das meinem Gesprächspartner offenbar ganz und gar nicht schmeckte, gab er sich damit zufrieden.
Kaum hatte er aufgelegt, wählte ich Alex Dermot-Browns Nummer und erzählte ihm von dem Gespräch.
Entgegen meinen Erwartungen äußerte er sich weder mitfühlend noch schockiert, sondern fing an zu lachen.
»Wirklich?« fragte er nur.
»Ist das nicht furchtbar?« beharrte ich.
Alex schien nicht sonderlich beeindruckt und meinte nur, das sei doch zu erwarten gewesen. Ich hätte damit rechnen müssen, als ich mich entschloß, gegen Alan vorzugehen. Irgendwie war ich unzufrieden mit seiner Reaktion. Aber seine Stimme klang nett, als er fortfuhr:
»Gut, daß Sie sich melden, ich wollte Sie nämlich anrufen.
Haben Sie morgen nachmittag schon was vor?«
»Nein, jedenfalls nichts Wichtiges. Worum geht es denn? Soll ich zu einer Extrasitzung zu Ihnen kommen?«
»Nein, ich möchte Sie entführen. Um halb zwölf stehe ich vor Ihrer Tür.«
»Aus welchem Anlaß?«
»Das erkläre ich Ihnen unterwegs. Bis morgen.«
Ich spielte mit dem Gedanken, Alex zurückzurufen und ihm zu sagen, ich hätte keine Zeit, aber dann ließ ich es doch bleiben. Außerdem war ich neugierig.
Um einschlafen zu können, schluckte ich ein paar Tabletten, was zur Folge hatte, daß ich am nächsten Morgen mit Kopfschmerzen aufwachte. Mein Frühstück bestand aus ein paar Aspirin, schwarzem Kaffee und einer Grapefruit. Anschließend duschte ich und zog mich an. Da ich das Ziel unseres Ausflugs nicht kannte, entschied ich mich für neutrale Garderobe. Ich zog einen dunklen, halblangen Rock an und dazu einen hellgrauen Pullover und eine dezente Kette, ein Hauch Lippenstift und Lidstrich, flache Schuhe. Falls ich aussah wie eine geistesgestörte Patientin, dann doch zumindest wie eine, die man getrost zurück in die Gemeinschaft entlassen konnte. Als ich fertig war, zeigte die Uhr erst halb elf.
Nervös versuchte ich, die verbleibende Stunde irgendwie totzuschlagen, rauchte, hörte Musik und las unkontrolliert in einem Roman. Ich hätte in den Garten gehen und ein paar Pflanzen setzen sollen, aber ich fürchtete, ich würde draußen nicht hören, wenn jemand an der Haustür war.
Schließlich klopfte es. Völlig unerwarteterweise trug Alex einen Anzug. Er hatte sich rasiert, und sein Haar war ordentlich gekämmt.
»Sie sehen sehr schick aus«, begrüßte ich ihn. »Aber das ist doch kein Rendezvous, oder?«
»Um halb zwölf vormittags? Übrigens sehen Sie auch sehr schick aus. Kommen Sie.«
Alex fuhr einen Volvo. Auf der Rückbank war ein Kindersitz befestigt; überall lagen Chipstüten, Kassetten und leere Kassettenhüllen herum. Alex fegte einiges davon vom Beifahrersitz, um Platz für mich zu schaffen. Dann ging es die Kentish Town Road hinunter in Richtung Süden.
»Also, wohin fahren wir denn nun?«
Alex schaltete den Kassettenrecorder ein. Musik von Vivaldi oder einem seiner Zeitgenossen erfüllte das Auto.
Monatelang hatte ich unablässig auf der Lauer gelegen, um irgendein Detail seines Privatlebens zu erhaschen, und nun saß ich plötzlich in seinem Wagen, zwischen seinen Kassetten, Miles Davis und Albinoni, Blur und die Beach Boys – alle von Hand beschriftet. Das schien mir
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