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Der Glaspavillon

Titel: Der Glaspavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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so unwirklich, als säße ich auf einmal neben Neil Young oder einer anderen Berühmtheit. Allerdings schwang das Gefühl des Unerlaubten, Inzestuösen mit.
    »Ich halte eine Einführungsrede auf einer Konferenz«, erklärte Alex. »Ich dachte, das interessiert Sie vielleicht.«
    »Weshalb gerade mich? «

    »Weil es auf dieser Konferenz um das wiedergewonnene Erinnerungsvermögen geht.«
    » Was? «Ich war fassungslos. »Meinen Sie das ernst?«
    »Natürlich.«
    »Ich verstehe das nicht. Es geht dabei aber doch nicht um mich persönlich, oder?«
    Alex lachte. »Nein, Jane, es ist einfach ein Gebiet, das mich interessiert.«
    Den Rest der Fahrt starrte ich aus dem Fenster, bis Alex in die Tiefgarage des Clongowes Hotel in Kingsway fuhr.
    Wir nahmen den Lift nach oben, durchquerten die Lobby und gingen zum Tagungsraum, vor dem ein Schild stand mit der Aufschrift: »Das wiedergewonnene Erinnerungsvermögen – Opfer und Täter.«
    Nachdem Alex uns beide im Tagungsbüro angemeldet hatte, erhielt ich einen Anstecker, auf dem mit Kugelschreiber mein Name stand. Man hatte offensichtlich nicht mit mir gerechnet. In dem großen Saal stand eine Anzahl Tische, wie für ein Examen. Da die meisten besetzt waren, steuerte Alex mit mir einen Platz ganz hinten an.
    »Warten Sie hier auf mich«, sagte er. »Ich bin in etwa zwanzig Minuten wieder zurück. Es gibt ein paar Leute, mit denen ich Sie bekannt machen möchte.«
    Er winkte mir zu und ging dann zwischen den Tischen nach vorne. Er brauchte eine Weile, da er fast jeden begrüßte, an dem er vorbeikam. Hände wurden geschüttelt, man umarmte sich und klopfte sich gegenseitig auf den Rücken. Eine schöne Frau mit dunklem Teint stöckelte auf ihn zu und schlang die Arme um ihn, wobei sie nur auf einem Fuß stand und den anderen in die Kniekehle des Standbeins legte. Eifersucht stieg in mir auf, aber ich unterdrückte sie sofort. Da ich Alex monatelang ganz für mich allein gehabt hatte, war für mich sein Auftreten in der Öffentlichkeit ein Schock. Ich zwang mich, an etwas anderes zu denken. Auf dem Schreibtisch vor mir lag ein weißer Kugelschreiber und ein kleiner linierter Block mit der Aufschrift »Mindset« –
    Bewußtseinsbildung/Bewußtsein. Außerdem eine Mappe, auf der das Thema der Konferenz stand. Innen steckten zahlreiche Unterlagen, darunter eine Liste mit den Namen und Berufsbezeichnungen der etwa hundert Tagungsteil-nehmer. Ärzte, Psychiater, Sozialarbeiter, Vertreter gemeinnütziger Organisationen und eine Anzahl von Personen – lauter Frauen – mit der Bezeichnung »Über-lebende«. Dazu zählte ich wohl auch.
    Vor der ersten Reihe stand ein Tisch mit einem Krug Wasser und vier Gläsern, daneben ein Stehpult. Mit der für ihn typischen charmanten Schüchternheit, die mir bereits so vertraut war, begrüßte Alex noch einen letzten Kollegen und steuerte dann auf das Pult zu. Er klopfte an das Mikrofon, daß es durch den Raum hallte.
    »Es ist zwölf Uhr fünfzehn, und ich denke, wir sollten anfangen. Ich möchte Sie zu unserer von Mindset organisierten diesjährigen Konferenz über das wiedergewonnene Erinnerungsvermögen herzlich begrüßen und freue mich, so viele bekannte Gesichter zu sehen. Dies ist Ihre Tagung, und sie ist wie im letzten Jahr so konzipiert, daß Sie sich aktiv daran beteiligen können. Folglich werde ich mich bemühen, meinen Redefluß zu bremsen. Ich bin mir bewußt, daß mein Publikum aus vielen angesehenen Analytikern besteht.«
    Höflich verhaltenes Lachen ertönte. Alex hüstelte nervös und nahm einen Schluck Wasser – dabei bemerkte ich mit Schrecken, daß seine Hand zitterte – und fuhr fort.
    »Ich möchte mich auf ein paar einführende Worte zur Tagesordnung beschränken. Dann wird Dr. Kit Hennessey einen Überblick über die jüngsten Forschungsarbeiten geben. Anschließend folgt eine kurze Mittagspause. Das Büffet finden Sie, wenn Sie aus dem Saal kommen und sich nach rechts wenden. Nach dem Essen werden in den einzelnen Konferenzräumen hier im Erdgeschoß verschiedene Arbeitsgruppen abgehalten. Einzelheiten entnehmen Sie bitte Ihren Unterlagen. Ich glaube, das ist alles. Nun zu meinem kurzen Beitrag.«
    Alex öffnete den schmalen Dokumentenordner, den er bei sich trug, und holte ein paar Blätter heraus. Dieser Alex dort vorne hatte nichts mit dem entspannten, fürsorg-lichen Zuhörer gemein, mit dem ich in den vergangenen Monaten soviel Zeit verbracht hatte. Von Anfang an sprach er leidenschaftlich, klar und polemisch:

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