Der Glaspavillon
»Die Tatsache, daß das wiedergewonnene Erinnerungsvermögen nach wie vor totgeschwiegen wird, gehört zu den größten Skandalen unserer Zeit.« Er erläuterte, wie Menschen, insbesondere Frauen, über Generationen hinweg gezwungen wurden, frühe Kindheitstraumata zu verbergen. Wenn sie darüber sprachen, glaubte ihnen niemand, sie wurden verleumdet, ausgestoßen und als krank abgestempelt, viele wurden gezwungen, sich einer Gehirnoperation zu unterziehen. Leider, so führte Alex weiter aus, waren gerade die medizinischen Autoritäten, die solche Mißstände hätten anprangern können – nämlich Psychiater und Analytiker –, ebenso wie die Vertreter von Recht und Gesetz – also Polizei und Juristen –, maßgeblich an diesen Unterdrückungsmaßnahmen beteiligt.
»Gesetz und Wissenschaft«, fuhr er fort, »wurden gegen die Opfer eingesetzt, genauso wie es schon immer mit bestimmten Gruppen geschehen ist, überall dort, wo es den Interessen der Machthaber entgegenkam, die Rechte einer Minderheit zu unterdrücken. Die sogenannte logische Beweisführung wurde als Unterdrückungsinstru-ment eingesetzt. Wir müssen den mißbrauchten Opfern, die den beschwerlichen Weg gegangen sind und ihr Gedächtnis wiedergewonnen haben, zurufen, daß wir ihnen glauben und sie unterstützen.«
Jetzt wußte ich, weshalb Alex mich mitgenommen hatte.
Auch ich hatte mich immer für verrückt gehalten und wie eine Außenseiterin gefühlt, gefangen in meinem eigenen Leid. Das also meinte Alex, wenn er sagte, ich müsse an die Öffentlichkeit gehen – die Erkenntnis, daß ich nicht allein mit meinem Problem war und daß andere Leute das gleiche durchgemacht hatten.
Alex hatte seine Einleitung beendet und erkundigte sich, ob noch jemand Fragen hatte. Mehrere Hände hoben sich.
Ein Mann – ein leitender Angestellter des Sozialamts –
dankte Alex für seine Rede, meinte aber, in seinem Bericht sei die politische Dimension vernachlässigt worden. Das Problem bedürfe einer gesetzlichen Regelung.
Weshalb befand sich unter den Zuhörern nicht ein Abgeordneter oder zumindest ein Stadtrat? Alex lächelte und zuckte die Achseln. Das frage er sich auch. Er kenne eine Menge Politiker, die sich dem Problem gegenüber aufgeschlossen zeigten, aber da die Konsequenzen, die sich aus den Erkenntnissen über die wiedergewonnene Erinnerung ergaben, so weitreichend waren und die herkömmlichen medizinischen und rechtlichen Bestimmungen so erdrückend, zeigten sich diese Herrschaften doch äußerst unwillig, in der Öffentlichkeit auch nur den geringsten Vorstoß zu unternehmen.
»Wir müssen die Angelegenheit anders vorantreiben«, erklärte er. »Einige markante Rechtsfälle könnten uns dabei helfen, die Problematik nachhaltig ins Bewußtsein der Menschen zu bringen. Wenn uns das gelingt und wir die Öffentlichkeit dafür sensibilisieren können, schwindet vielleicht auch die Angst vor dem Thema. Wenn die Sache erst mal ins Rollen kommt, werden die Politiker schon aufspringen.«
Die Zuhörer applaudierten. Als der Beifall verebbte, erhob sich eine Frau. Sie war Ende Vierzig, auffallend klein und nachlässig gekleidet. Statt über ihre eigenen Erfahrungen mit Mißhandlung zu berichten, stellte sie sich vor: Thelma Scott, Psychiaterin am St. Andrews Hospital in London. Alex gab durch ein knappes Nicken zu erkennen, daß er wußte, wen er vor sich hatte.
»Ich nehme an, Sie sind jedem von uns bekannt, Dr. Scott.«
»Dr.
Dermot-Brown, ich habe die Themen Ihres Tagungsprogramms durchgelesen«, sagte sie, die Unterlagen unterm Arm.
»›Glauben und fähig machen‹, ›Hört uns zu!‹, ›Hürden in der Rechtsprechung‹, ›Das Dilemma des Arztes‹,
›Schutz des Patienten‹.« Sie hielt inne.
»Und?« fragte Alex etwas gereizt.
»Ist dies ein Diskussions- und Frageforum? Dann vermisse ich Diskussionen über Schwierigkeiten bei der Diagnostik, über mögliche Rehabilitätsprobleme bei Feststellung des wiedergewonnenen Erinnerungsvermögens, über den Schutz der Familien im Fall falscher Schuldzuweisungen.«
»Das ist hier nicht das Thema, Dr. Scott«, entgegnete Alex.
»Schon immer ging es doch um den Schutz der Familie vor wahren Anschuldigungen. Bis jetzt ist das Problem noch nicht aufgetaucht, daß wir jemanden davon abhalten müssen, einen Mißbrauch anzuzeigen. Die Opfer sehen sich so massiv unter Druck gesetzt, daß sie selbst kaum damit fertig werden, geschweige denn öffentliche Erklärungen abgeben, um auf ihre Rechte aufmerksam
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