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Der Glaspavillon

Titel: Der Glaspavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Tages sagte Dr. Dermot-Brown, er hätte das Gefühl, ich sei von einem nahen Verwandten mißbraucht worden und würde die Erinnerung verdrängen. Daraufhin bin ich schrecklich wütend geworden. Ich habe den Gedanken weit von mir gewiesen und wollte die Analyse hinschmeißen, aber irgendwas hielt mich davon ab. Also machten wir weiter.

    Wir streiften bestimmte Abschnitte meiner Kindheit, Erinnerungslücken, aber es gab keine Fortschritte. Alles schien sinnlos zu sein, bis Alex vorschlug, ich solle mir einfach vorstellen, ich sei mißbraucht worden, und von diesem Punkt aus weitermachen.«
    Melanie machte eine Pause und nahm einen großen Schluck Wasser. »Auf einmal öffneten sich alle Schleusen. Mich quälten Bilder, die allesamt mit Sexualität zu tun hatten. Als ich genauer hinsah und mich auf sie einließ, merkte ich, daß es Erinnerungen an sexuelle Übergriffe meines Vaters waren. Keine Angst, ich erzähle Ihnen nichts darüber, was mein Vater mit mir gemacht hat. Es waren schreckliche, perverse Sachen, die ich mir selbst kaum vorstellen kann. Während Alex und ich uns weiter vortasteten, deckten wir immer mehr auf.
    Ich begriff, daß meine Mutter die Verbündete meines Vaters war und sein Treiben nicht nur duldete, sondern aktiv unterstützte. Mein Bruder und meine Schwester wurden genau wie ich vergewaltigt und mißbraucht.«
    Sie sprach erschreckend ruhig, als hätte sie geübt, diese entsetzliche Geschichte zu erzählen. Wie sollte ich reagieren?
    »Das ist furchtbar!« sagte ich und wußte sofort, wie unzulänglich diese Bemerkung war. »Hatten Sie keinerlei Zweifel, daß Sie es sich nur eingebildet haben?«
    »Ich quälte mich unendlich und brauchte viel Hilfe und Zuspruch, die ich zum größten Teil von Alex bekommen habe.«
    »Was haben Sie dann getan? Sind Sie zur Polizei gegangen?«
    »Ja, nach einiger Zeit. Man hat meinen Vater vernom-men, aber er hat alles abgestritten, so daß es nie zu einer Anklage kam.«

    »Und Ihre Geschwister? Was haben die gesagt?«
    »Sie haben sich auf die Seite meiner Eltern gestellt.«
    »Und was ist aus Ihrer Familie geworden?«
    »Ich habe keinen Kontakt mehr zu ihr. Was habe ich denn mit Menschen zu schaffen, die mein Leben ruiniert haben?«
    »O Gott, das tut mir leid. Und wie ging es dann für Sie weiter? Wie hat Ihr Mann reagiert?«
    Ich war entsetzt, aber Melanie beschrieb ganz distanziert, fast amüsiert ihr gescheitertes Leben.
    »Er wurde überhaupt nicht fertig damit. Mir ging es ein, zwei Jahre fürchterlich schlecht, ich wurde krank und konnte nicht arbeiten. Ich war einfach fix und fertig.
    Schließlich zog ich aus und kündigte meine Arbeit. Auf diese Weise habe ich fast ein Jahrzehnt meines Lebens verloren. Ich hab mir immer Kinder gewünscht. Meine Therapie bei Alex begann ich mit Mitte Dreißig. Jetzt bin ich sechsundvierzig. Ich werde nie Kinder haben. Ich brauche mich nur noch um mich selbst zu kümmern.«
    »Lieber Himmel, Melanie, war es das wirklich wert?«
    Ihr seltsames Lächeln verschwand. »Wert? Mein Vater hat Sodomie mit mir getrieben, als ich fünf Jahre alt war!
    Meine Mutter wußte Bescheid, nahm es aber nicht zur Kenntnis. Das haben sie mir angetan, und damit muß ich fertig werden.«
    Mir war übel, und das Essen blieb mir im Hals stecken.
    Ich mußte mich zwingen zu schlucken.
    »Haben sich Ihre Eltern nie bei Ihnen entschuldigt für das, was sie Ihnen angetan haben?«
    »Entschuldigt? Sie haben alles abgestritten.«
    »Und jetzt?« Das war wahrscheinlich eine blöde Frage, aber mir fiel nichts Besseres ein.

    »Ich habe vor ein paar Jahren eine Selbsthilfegruppe gegründet – für Menschen, die sich nachträglich an einen Mißbrauch erinnert haben. Deshalb wollte Alex auch, daß wir uns kennenlernen. Wir veranstalten heute nachmittag einen Workshop und haben dabei an Sie gedacht. Hätten Sie Lust mitzumachen?«
    »Ich bin mir nicht sicher, Melanie.«
    »In der Gruppe sind wirklich ganz großartige Frauen, Jane, ich denke, sie werden Ihnen gefallen. Geben Sie uns eine Chance. Vielleicht können wir Ihnen helfen.« Sie sah auf ihre Uhr. »Ich muß jetzt gehen. Wir treffen uns um zwei, im Konferenzraum 3, am Ende des Flurs. In Ordnung?«
    Ich nickte. Melanie warf den Riemen ihrer Handtasche über die Schulter, nahm einen Stoß Akten, und während sie sich durch die Menge kämpfte, nickte sie hier und da jemandem zu. Sie hätte genausogut auf dem Weg zu einem Fest oder zur Versammlung einer Frauenorga-nisation sein können, aber nein, sie

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