Der Glaspavillon
immer als Familie zusammenhalten und die Situation gemeinsam meistern.
Es ist für uns alle nicht leicht, aber wir müssen uns einfach gegenseitig helfen. Alan und Martha trifft es am schwersten. Es ist ihnen sehr wichtig, daß du morgen dabei bist.«
Seine Stimme wurde weich.
»Laß uns nicht im Stich, Jane. Es betrifft uns alle. Du kommst doch, nicht wahr?«
»Ja.«
Ich wählte Helen Austers Nummer, aber sie war zu beschäftigt, um viel zu sagen. Sie meinte nur, sie sei in ein paar Tagen wieder in London, dann könnten wir uns treffen. Was hätte ich sie überhaupt fragen sollen?
Der Himmel über dem schmalen Sarg war grau. Die Bäume trugen kein Laub mehr, dafür lagen bunte Blumen auf den schimmernden neuen Grabsteinen, die von Kunst-rasen umsäumt waren und kitschige Inschriften trugen.
Die schönen verwitterten Steine hingegen waren nicht geschmückt. Ich blickte an der Kirchenfassade hoch.
Romanisch, flüsterte mir jemand ins Ohr. Natürlich Claud.
Falls ich anschließend noch Zeit hätte, müßte ich mir das normannische Taufbecken ansehen. Seine Stimme ging gottlob im Glockengeläut unter. Ihr Grab erinnerte an eine offene Wunde im Erdboden. Gleich würde man das Bündel Knochen hinabsenken und Erde darüber werfen. In einem Jahr wäre Gras über die Narbe gewachsen. Man würde dem Ort gelegentlich einen Besuch abstatten und Blumen hinlegen. An Weihnachten Stechpalmenzweige, im Frühjahr Narzissen. Irgendwann wäre das Grab nicht mehr neu und grauschwarz. Es würde mit der düsteren Umgebung verschmelzen. Die kleine Schar der sonntäglichen Kirchgänger würde achtlos daran vorbeispazieren.
Und dann käme der Tag, an dem niemand mehr den Ort besuchen würde, an dem Natalie begraben lag. Fremde würden neben dem Grabstein stehenbleiben, mit den Fingern die gemeißelten Lettern nachziehen und sagen: Sie ist aber jung gestorben.
Marthas Anblick brach mir fast das Herz. Binnen weniger Wochen schien sie um Jahre gealtert zu sein. Ihr Gesicht war von Kummer gezeichnet, ihr Haar schlohweiß. Trotz des eisigen Winds hielt sie sich kerzen-gerade und weinte nicht. Ob sie überhaupt noch Tränen hatte? Ich wußte, daß sie jede Woche am Grab ihrer Tochter sitzen würde, obwohl sie nicht an Gott glaubte.
Zum erstenmal fragte ich mich, wie viele Jahre ihr noch bleiben mochten. Sie hatte immer unsterblich auf mich gewirkt, doch nun schien sie gebrechlich und todmüde.
Auch bei Alan hatten die Ereignisse Spuren hinterlassen.
Sein weiter Mantel und der Stock, den er umklammert hielt, ließen ihn plötzlich kleiner und gebeugter wirken.
Neben ihm die vier Söhne, groß und nach wie vor attraktiv in ihren dunklen Anzügen. Wir anderen – Ehefrauen, Ex-Ehefrauen, Enkel und Freunde – standen hinter ihnen.
Jerome (»ich hab Unterricht«) und Robert (»nee, ich mag keine Beerdigungen«) waren nicht erschienen, dafür war unerwartet Hana morgens um sieben bei mir aufgetaucht –
in einem mauvefarbenen langen Rock, mit einem Schinkensandwich, einer Thermoskanne und einem Strauß Anemonen, die an Edelsteine erinnerten.
»Sag mir einfach, wenn du mich nicht dabeihaben möchtest«, hatte sie gemeint. Aber ich wollte. Ich war froh, daß sie neben mir stand und meine Hand hielt, während die Luft ihre Nase rot färbte und ihre albernen Kleider im Wind flatterten. Einige Meter von uns entfernt schneuzte sich ein Mann mittleren Alters laut in sein großes Taschentuch. Sein feines, konzentriertes Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor. Das war das einzige Geräusch. Selbst die Vögel sangen nicht.
Unbeholfen sprach der Vikar seine Worte über Tod und Auferstehung in die kalte Luft. Der Sarg wurde in die Gruft hinabgelassen. Martha trat langsam vor und warf eine einzelne gelbe Rose auf den Sarg. Hinter mir hörte ich unterdrücktes Schluchzen. Niemand sonst gab einen Laut von sich. Martha trat wieder zurück und ergriff Alans Hand. Sie sahen einander nicht an, sondern blickten starr auf das ausgehobene Loch im Erdreich, das sogleich zugeschüttet wurde. Claud trat mit einem Blumenstrauß an das Grab. Wir folgten ihm, einer nach dem anderen.
Wenig später war die bloße Erde über und über mit Blumen bedeckt.
Meine müden, verweinten Augen sahen Stead jetzt in einem anderen Licht. In meinen Kindertagen war es der verlockendste Ort der Welt gewesen, an den man nach langen Spaziergängen in der Dämmerung zurückkehrte, wenn das Abendlicht auf dem Mauerwerk schimmerte, die Fenster golden leuchteten und kleine
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