Der Glaspavillon
Na los, hab ich nicht recht?«
»Nein, du irrst dich«, widersprach ich. Entschlossen schob ich meinen Teller weg, trank noch einen Schluck Wein und zündete mir eine Zigarette an. Inzwischen fühlte ich mich nicht mehr so ausgeliefert, nicht mehr so verführerisch angezogen vom sanften goldenen Licht meiner Phantasievergangenheit.
»Willst du die Tatsache einfach ignorieren, daß du in Natalie verliebt warst und sie dich gnadenlos zurückge-wiesen hat? Es war eine komplizierte Geschichte, stimmt’s? Da warst du und Natalie, aber da waren auch Natalie und Luke, ich und Theo und später dann ich und Claud – und die Zwillinge, die sich wirklich etwas seltsam benahmen und alberne Streiche ausheckten, und außerdem gab es noch Alan, der mit allen verfügbaren Mädchen rumbumste, während Martha für uns das Essen kochte und unsere Knie verpflasterte, und Mum, die unglücklich war, und Dad, bei dem keiner weiß, was er von alldem hielt.
Und noch etwas fällt mir ein«, jetzt war ich so in Fahrt, daß die Worte nur so aus mir heraussprudelten und ich sie nicht aufhalten konnte, »ich erinnere mich, daß Natalie verschwunden ist, damals, als ich sechzehn war und du achtzehn. Für dich symbolisierte dieses Ereignis das Ende unserer Unschuld. Das macht sich im Fernsehen vielleicht gut, aber glaubst du wirklich, daß es den Tatsachen entspricht?«
Irgendwann im Lauf meiner Rede hatte Paul das Tonband wieder angestellt. Ich sah ihm an, daß er hin- und hergerissen war zwischen persönlicher Verwirrung und professionellem Interesse. Ich lieferte ihm reichhaltiges Material, so weit, so gut. Doch dann sagte ich etwas Schreckliches. Ehe ich sie in Gedanken fassen konnte, waren die Worte schon aus meinem Mund und lagen zwischen uns wie ein Schwert: »Wann hast du Natalie zum letztenmal gesehen, Paul?«
Zu meiner Überraschung reagierte Paul nicht wütend. Er musterte mich ein paar Sekunden eindringlich. Dann rollte er nachdenklich ein Brotkügelchen zwischen den Fingern, beugte sich über den Recorder und sprach direkt ins Mikrophon: »Ich weiß es nicht mehr. Es ist so lange her.«
Später tranken wir Kaffee, und Bella und ich rauchten noch eine Zigarette. Zwischen unseren beiden bläulichen Rauchwolken saß Paul und stellte mir noch ein paar Fragen, aber das eigentliche Interview war gelaufen.
Wenig später schlüpfte ich in meine Lederjacke, küßte Paul auf die Wange, nickte Bella zu und ging. London war grau und schäbig im feuchten Wind, überall auf den Gehwegen lagen Papierfetzen. Eine Frau mit einem kleinen Kind im Schlepptau bettelte mich an. Als ich ihr fünf Pfund in die Hand drückte, wollte sie zehn haben.
Was für eine trostlose Welt!
13. KAPITEL
»Irgendwie genießt Alan doch die ganze Geschichte.«
Ich kochte Abendessen für Kim, die gerade erschöpft aus der Chirurgie gekommen war, mit zwei Flaschen Wein unter dem Arm. Das Kartoffelpüree war fertig, ein grüner Salat vorbereitet, auf dem Tisch standen frische Blumen: Endlich konnte ich mal wieder jemanden bekochen. Kim hatte die Schuhe abgestreift und tappte gedankenverloren in der Küche herum, lüftete hier und dort einen Topf-deckel und spähte in den Kühlschrank. Auf dem Heimweg vom Büro war ich im Supermarkt gewesen, und nun war der Kühlschrank reichlich gefüllt: verdächtig rote Tomaten, Fenchelknollen, ein Salat mit einem merkwürdigen Namen, ein großes Stück Parmesan, jede Menge Joghurt, italienische Nudeln, eine Packung Räucherlachs.
Ich hatte beschlossen, gesund zu leben. Kein Essen mehr, das nur angezündet und inhaliert zu werden brauchte.
Morgens auf dem Weg zur Arbeit ging ich jetzt meistens kurz schwimmen, und ich bemühte mich, mir abends regelmäßig ein ordentliches Abendessen zu kochen.
»Wie meinst du das?«
Kim entkorkte eine Weinflasche und schenkte uns beiden ein Glas voll. Ich nahm einen Schluck, dann warf ich die kleingeschnittenen Zwiebeln in die Pfanne und begann, mit dem Finger den Schleim aus dem Tintenfisch zu entfernen.
»Na ja, ich vermute, er ist am Boden zerstört. Aber hast du eigentlich das Interview im Guardian gelesen? Also ehrlich! Paul hat mich angerufen und behauptet, er wäre einfach nur für eine Frauenzeitschrift fotografiert worden.
Dabei machen die ein großes Feature über Prominente, denen ein Kind gestorben ist.«
»Es gibt eben keine Probleme«, meinte Kim sarkastisch.
»Nur Chancen.«
»Das erzählst du deinen Patienten, stimmt’s? Dann ist die größte aller Chancen wahrscheinlich
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