Der Glaspavillon
alles sausen ließ und mich der Gegenwart widmete, meinem jetztigen Leben – mit dem Gleichmut, auf den ich immer so stolz gewesen bin?
Ich ging zum Kühlschrank und goß den Rest Martini in mein Glas. Ich hörte auf nachzudenken, und auf einmal nahm die Fernsehsendung vor mir Gestalt an, wie ein Bild, das allmählich scharf gestellt wurde. Eine Frau – sehr attraktiv, abgesehen davon, daß ihre Augenbrauen zu dünn waren – sprach über die Familie als Keimzelle der Gesellschaft.
»Ebenso wie ein Haus, in das es reinregnet, immer noch besser ist als gar kein Haus«, sagte sie, »so ist eine unvollkommene Ehe besser als gar keine. Der schlimmste soziale Notstand unserer Zeit ist das rücksichtslose und egoistische Verhalten mancher Eltern, denen ihre eigene Bequemlichkeit wichtiger ist als die Zukunft ihrer Kinder.«
Lauter Beifall ertönte.
»Halt’s Maul!« schrie ich den Bildschirm an.
»Sir Giles«, sagte der Moderator der Sendung.
Sir Giles war ein Mann im grauen Anzug.
»Jill Cavendish hat vollkommen recht«, meinte er, »und wir alle sollten uns nicht schämen, ganz kategorisch festzustellen, daß es hier um eine Frage der Moral geht.
Und wenn die Oberhäupter unserer Kirchen nicht gewillt sind, zu diesem Thema klar Stellung zu beziehen, dann ist es an der Zeit, daß wir, die Politiker, endlich aktiv werden.
Wie wir alle wissen, gibt es junge Mädchen, die absichtlich schwanger werden, weil sie dadurch schnell und leicht an eine Sozialwohnung kommen. Ganz bewußt wählen sie die Arbeitslosigkeit, auf Kosten der übrigen Gesellschaft.
Mit dem Ergebnis, daß ganze Generationen von Kindern ohne moralische Führung aufwachsen, ohne einen Vater, der ihnen ein Vorbild ist. Kein Wunder, daß diese Kinder kriminell werden.
Ich glaube, meine Damen und Herren, daß die Zeit gekommen ist, in der die Durchschnittsbürger sich erheben und den Sozialisten zurufen sollten: ›Dorthin habt ihr uns gebracht. Das ist die logische Folge eurer Politik, eurer Mißachtung von Moral und Familie, wie wir sie alle in den sechziger Jahren erlebt haben.‹ Diese Leute meinen, wir sollen Verständnis zeigen für die Zwangslage dieser armen hilflosen Frauen. Wenn Sie mich fragen, sollten wir ein bißchen weniger verstehen und ein bißchen mehr bestrafen. Als ich jung war, landete ein Mädchen, das schwanger wurde, auf der Straße, als Ausgestoßene.
Vielleicht haben wir aus jener Zeit etwas zu lernen. Ich sage Ihnen: Wenn junge Mädchen wissen, daß es für sie keine Wohnungen und kein Arbeitslosengeld gibt, dann wird es bald auch wesentlich weniger alleinstehende Mütter geben.«
»Wichser«, knurrte ich und warf die Zigarettenschachtel auf den Bildschirm. Sie landete ziemlich weit daneben.
Jetzt ertönte noch heftigerer Applaus als vorhin, und der Gesprächsleiter hatte größte Mühe, sich wieder Gehör zu verschaffen.
»Außerdem ist heute Dr. Caspar Holt bei uns, der nicht nur Philosoph, sondern zufällig auch alleinerziehender Vater einer kleinen Tochter ist. Dr. Holt, wie lautet Ihre Meinung zu den Ausführungen von Sir Giles?«
Die Kamera schwenkte auf das nervöse Gesicht eines Mannes mittleren Alters, der mir irgendwie bekannt vorkam.
»Ich bin nicht sicher, ob ich darauf eine Antwort parat habe«, sagte er. »Doch ich mißtraue zutiefst allen simplen Lösungen für soziale Probleme. Aber ich kann mir nicht helfen – ich glaube, wenn Sir Giles Whittell wirklich meint, daß junge Mädchen aus finanziellen Erwägungen heraus schwanger werden, sollte er sich einmal fragen, wer denn diese individualistische Kultur geschaffen hat, in der nichts zählt außer dem eigennützigen Kampf um größtmöglichen finanziellen Vorteil. Daß sich politisch nur etwas verbessern läßt, indem man den Reichen immer mehr Geld gibt, während man den Armen das wenige, was sie besitzen, auch noch wegnimmt – diese Meinung finde ich – na ja, irgendwie amüsant.«
Ich klatschte in die Hände. »Hört, hört!«
Außer mir klatschte diesmal allerdings niemand Beifall, im Gegenteil: Der Sprecher wurde von allen Seiten ausge-buht. Plötzlich fiel mir ein, wer dieser Mann war – er hatte bei Alans denkwürdigem Auftritt in der Kunstakademie neben mir gesessen! Soweit ich mich erinnerte, hatte ich mich ihm gegenüber ziemlich schlecht benommen, und jetzt bereute ich es. Schnell ging ich zu meinem Schreibtisch in der Ecke und wühlte in einem Stapel Postkarten. Ein grotesker Akt von George Grosz. Zu freizügig. Eine Verkündigung von
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