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Der Glaspavillon

Titel: Der Glaspavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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ich, daß sie sonderbar und mysteriös klang.
    » Wie ich mich an sie erinnere?«
    »Ich meine, ich habe mit vielen Leuten über Natalie gesprochen, und es erschien mir seltsam, daß ausgerechnet wir beide uns nie über sie unterhalten haben.«
    Claud ließ sich in einem Sessel nieder und musterte mich mit jener professionellen Miene, die mich an ihm schon immer geärgert hatte.
    »Findest du nicht, daß dein Engagement allmählich ein wenig zu weit geht, Jane? Ich meine, wir alle – Natalies richtige Familie, um es mal ganz deutlich zu sagen –, wir alle versuchen, unser Leben weiterzuleben. Ich weiß nicht recht, ob es da sonderlich hilfreich ist, daß du, aus welchen privaten psychischen Beweggründen auch immer, in unserer Vergangenheit herumwühlst. Ermutigt dich dein Analytiker dazu?«
    Sein Benehmen war freundlich und korrekt, und ich kam mir vor wie ein Schulkind, zerzaust und zappelig auf Clauds makellosem Sofa.
    »Okay, Claud, das war die Moralpredigt – also, wie erinnerst du dich an sie?«
    »Sie war süß, klug und liebevoll.«

Ich musterte ihn.

    »Sieh mich nicht so an, Jane. Nur weil du eine Therapie machst, ist dir alles verdächtig, was normal aussieht.
    Natalie war meine kleine Schwester, sie war ein nettes Mädchen, schon fast eine Frau, als sie tragischerweise gestorben ist. Basta. So erinnere ich mich an sie, und das will ich auch nicht ändern. Ich möchte nicht, daß du sie in den Schmutz ziehst, auch wenn sie schon fünfundzwanzig Jahre tot ist. Okay?«
    Ich goß noch etwas Sherry in mein winziges Glas und trank einen Schluck.
    »In Ordnung, was ist deine letzte Erinnerung an sie?«
    Diesmal schien Claud einen Moment nachzudenken, ehe er antwortete – vielleicht überlegte er auch, ob er überhaupt antworten sollte. Dann nickte er, mit einem fast mitleidigen Gesichtsausdruck.
    »Ich weiß wirklich nicht, was das soll, aber wenn du darauf bestehst – wir waren alle auf Stead und bereiteten die Party für Martha und Alan vor, die von der Kreuzfahrt zurückkamen. Am nächsten Morgen wollte ich nach Bombay fliegen. Wie die meisten von uns hat auch Natalie geholfen. Am Tag der Party sind wir alle – du und Natalie und ich – hin und her gerannt und haben alles mögliche erledigt. Weißt du noch?«
    »Es ist schrecklich lange her«, entgegnete ich.
    »Ich erinnere mich genau, daß ich Natalie im Auto mitgenommen habe, um Alans und Marthas Geschenk abzuholen. Wir haben uns, glaube ich, darüber unterhalten, was sie anziehen wollte. Danach weiß ich nur noch, daß ich mit dem Grill beschäftigt war und mich kaum mehr vom Fleck gerührt habe bis in die frühen Morgenstunden.« Er sah mich an. »Aber das weißt du nicht mehr, stimmt’s? Du warst ja mit Theo zugange. Vor der Morgendämmerung bin ich dann mit Alec weggefahren. Als ich zwei Monate später zurückkam, hörte ich zum erstenmal von Natalies Verschwinden.«
    Mit dem Zeigefinger tupfte ich sorgfältig die Krümel von meinem Teller.
    »Hast du Natalie morgens noch gesehen?«
    »Natürlich nicht. Ich habe überhaupt niemanden gesehen, außer Mutter, die Alec und mich ungefähr um halb vier zum Bahnhof gefahren hat. Bitte, Jane, das ist doch alles schon ein alter Hut. Und ich bin dir keine große Hilfe
    – ich war nicht da an jenem Tag, als dieser Mann Natalie gesehen hat.«
    Er strich sich mit der Hand über die Stirn, und ich bemerkte zum erstenmal, wie müde er aussah. Dann lächelte er mir zu, ein seltsames vertrautes kleines Halblächeln. Auf einmal war die Feindseligkeit verschwunden; etwas anderes, ebenso Beunruhigendes war an ihre Stelle getreten.
    »Weißt du eigentlich«, meinte er gedankenverloren,
    »weißt du eigentlich, wie sehr ich es bedaure, nicht dagewesen zu sein?
    Lange Zeit habe ich gedacht, wenn ich nicht weggefahren wäre, wäre alles nicht passiert. Ich glaubte wohl, daß ich es hätte verhindern können oder so was Lächerliches. Und ich habe bis heute das Gefühl, daß ich irgendwie vom Rest der Familie getrennt bin, weil sie alle da waren, nur ich nicht.« Er lächelte, aber sein Lächeln erreichte nicht seine Augen. »Du hast mich immer den Bürokraten der Familie genannt, stimmt’s, Jane?
    Vielleicht kommt das daher, daß ich nur auf diese Weise ein echtes Zugehörigkeitsgefühl entwickeln kann.«
    »Claud, es tut mir wirklich leid, wenn ich etwas Blödes gesagt habe.«
    Ohne nachzudenken nahm ich seine Hände, und er zog sie nicht weg, sondern sah hinab auf unsere ineinander verschlungenen Finger. Ein paar

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