Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Glaspavillon

Titel: Der Glaspavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
Vom Netzwerk:
waren an den Knien blankgescheuert, sein dunkelblauer Pullover hatte Flecken und war voller Fusseln, seine langen lockigen Haare hatten keine Form, sondern wurden während jeder angeregten Konversation ununterbrochen von seinen Fingern durchpflügt. Dennoch fühlte ich mich zu ihm hingezogen, sicher auch deshalb, weil er der Mensch war, dem ich mich geöffnet hatte, der Mann, von dem ich gelobt werden wollte. Das alles war mir sonnenklar. Aber nun erkannte ich mit einiger Erregung, daß ihn meine Forschungsreise ebenso faszi-nierte wie mich und daß er ihren Fortschritten ebenso gespannt und erwartungsvoll entgegensah. Tief im Bauch spürte ich gleichzeitig ein seltsames Ziehen. Es erinnerte mich an die Vorwehen, die ich vor Jeromes Geburt gehabt hatte, diese kaum wahrnehmbaren Kontraktionen, die mich warnten, daß ich demnächst wirklich und wahrhaftig ein Kind zur Welt bringen mußte. Auch jetzt stand etwas bevor, dem ich mich stellen mußte. Das wußte ich. Aber was mochte es nur sein?

    Ein Mann mit schütterem Haar und einem grauen Anzug stand auf. Er sah aus, als wäre er direkt aus dem Büro zur Versammlung gekommen.
    »Also, ich habe etwas zu sagen.«
    Man kennt ja die öffentlichen Versammlungen oder Diskussionen, bei denen der oder die Vorsitzende das Publikum auffordert, Fragen zu stellen. Wenn dann eine endlose Stille einkehrt und niemand sich traut, den Mund aufzumachen – ist das nicht immer entsetzlich peinlich?
    Diesmal war es ganz anders. Jeder wollte etwas sagen, und die meisten versuchten es gleichzeitig.
    Gleich zu Anfang war uns klargeworden, daß man beim Bau des Wohnheims die Anwohner einbeziehen mußte, zumindest auf einer informellen Basis. Man hatte sich mit der Bürgervereinigung der Grandison Road getroffen, um das Thema zu erörtern, und die Leute hatten eine öffentliche Versammlung gefordert, in Anwesenheit der für das Wohnheim verantwortlichen Behördenvertreter. Es war nicht ganz klar, was diese Forderung bedeutete und ob man sie überhaupt zur Kenntnis nehmen mußte, aber man beschloß darauf einzugehen, allein schon aus Gefälligkeit.
    Chris Miller von der Planungsabteilung des Stadtrats hatte die Verantwortung für das Projekt und sollte den Vorsitz übernehmen, Dr.
    Chohan, ein Psychiater der offenen
    Abteilung von St. Christopher, würde dasein, außerdem Nadine Tindall vom Sozialamt. Unmittelbar vor der Veranstaltung hatte Chris angerufen und mich gebeten, ebenfalls zu erscheinen.
    Widerwillig erklärte ich mich bereit zu kommen, wenn auch nur, um ein Auge auf eventuelle vorschnelle Zuge-ständnisse zu haben, die Chris möglicherweise machen würde. Das Geld für so etwas wurde gewöhnlich von meinem Budget abgezwackt. Ausgerechnet an diesem Abend hatte ich es geschafft, mich mit Caspar zu einem Drink zu verabreden. Jetzt mußte ich ihn anrufen, um abzusagen und mich zu entschuldigen. Doch als er hörte, worum es ging, spitzte er sofort interessiert die Ohren und fragte, ob er kommen und sich ins Publikum setzen dürfte.
    Er wollte mich bei der Arbeit sehen. Ich entgegnete, es handle sich lediglich um eine Formalität, es lohne sich für ihn wirklich nicht zu kommen.
    »Es wird keine Formalität«, beharrte er. »Schließlich geht es um den Lebensraum dieser Leute. Ihr wollt Verrückte in diese Gegend einschleusen. Ich möchte das keinesfalls verpassen. Solche Versammlungen erfüllen heutzutage die Funktion einer Bärenhatz oder einer öffentlichen Hinrichtung.«
    »Jetzt machen Sie mal halblang, Caspar, niemand hat etwas gegen dieses Projekt.«
    »Wir werden ja sehen. Übrigens müssen Sie mich unbedingt daran erinnern, daß ich Ihnen gelegentlich mal eine hochinteressante Untersuchung zeige, die vor ein paar Jahren in Yale durchgeführt worden ist. Sie scheint die Annahme zu bestätigen, daß Leute, die sich öffentlich zu einer bestimmten Position bekannt haben, diese noch hartnäckiger verfechten, wenn begründete Gegenargumen-te auftauchen – mögen diese auch noch so zwingend sein.«
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    »Erwarten Sie nicht, jemanden mit vernünftigen Argumenten zu überzeugen.«
    »Ich brauche keine Untersuchung aus Yale, um das zu wissen. Aber vielleicht sehen wir uns ja bei der Versammlung.«
    »Ich gehe wahrscheinlich in der Menge unter, werde Sie aber mit Sicherheit sehen.«
    Genau fünf Minuten vor Beginn der Versammlung kettete ich mein Fahrrad an die Parkuhr vor dem Bürgerzentrum. Als ich hineinging, dachte ich zuerst, ich hätte mich verirrt. Ich

Weitere Kostenlose Bücher