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Der gleiche Weg an jedem Tag

Der gleiche Weg an jedem Tag

Titel: Der gleiche Weg an jedem Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Adamesteanu
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würden, sagte ich mir. Auch ihre Gesichter standen nicht im Einklang miteinander, ich kam nicht dahinter, weshalb, und konzentrierte mich auf Vaters scharf geschnittenes, wie mit dem Zeichenstift nachgezogenes Gesicht, die geschwungenen Brauen, die schmalen Lippen, die lange, fast schon spitze Nase. Mutters Gesicht war breit und rund, mit ausladendem Kiefer, die Tränensäcke unter den Augen und die Lippen waren geschwollen wie beim Onkel. Als wären sie unterschiedlicher Abstammung, sagte ich mir und wandte den Blick ab, der wie gebannt war von Vaters mechanisch gleichmäßigem Schritt. Rein äußerlich gesehen hätte jeder von beiden einen anderen Begleiter gebraucht, und dennoch, sagte ich mir, da waren sie, außerstande, ihr Leben anders zu Ende zu bringen, als sie es begonnen hatten.
    Mit schrillem Gackern flatterte ein Huhn gegen meine Beine und rannte weiter am Zaun entlang, reckte immer wieder den Kopf zwischen den Latten hinein, fand aber das Tor nicht. Ein schlaksiger Junge mit viel zu langen Beinen holperte mit einem Fahrrad in Schlangenlinien über die mit großen Flusskieseln gepflasterte Straße, er übte. Über einer Kuhle mit an der Sonne rissig getrocknetem Morast öffnete sich der Blick auf das verstörend fahle Stoppelfeld. Ich schwieg weiterhin und vernahm zerstreut Vaters immergleiche abgehackte Sätze, die ich mittlerweile kannte.
    Â»Am Kanal hat mich nur der Wille erhalten, es gab da viele einfache Leute, stämmiger, kräftiger als ich, die nicht durchgehalten haben. Im Winter habe ich mich mit Schnee abgerieben, wenn sie uns zur Arbeit trieben, nur um meinen Organismus abzuhärten. Ich habe die ganze Zeit an einem kaputten Fenster der Holzbaracke geschlafen … Ich dachte damals, ich muss leben, das ist meine erste Pflicht … Ich aß alles, was sie mir gaben, und ließ nichts übrig, einige weigerten sich zu essen, sie sagten, sie könnten nicht, ich aber habe gegessen: wenn es ging und wir übereinkamen, auch zwei oder drei Portionen. Einzig und allein mein Wille hat mich erhalten – jeder andere mit meiner anfälligen Konstitution hätte seine Gebeine dort bleichen lassen. Ich aber habe mir gedacht, ich muss durchhalten, und wenn ich mir etwas in den Kopf setze, dann schaffe ich das auch. Ich habe mir gedacht, es ist meine Pflicht, da raus und zu euch zu kommen, ich habe euch das, wenn ihr euch erinnert, auch ausrichten lassen …«
    Â»So ist es«, antwortete Mutter mit dumpfer Stimme. »Und ich habe es dir geglaubt, obwohl mir niemand recht gab, schließlich kannte ich dich … Ich wusste, wenn du etwas gesagt hast, dann wirst du dich auch dran halten …«
    Auch ihre Sätze kannte ich mittlerweile auswendig, und mir wurde bewusst, dass die beiden sich in einem fort genüsslich wiederholen würden. Beim Erzählen änderten sie kaum etwas, sie setzten nichts drauf, dennoch erschien mir alles unwahr, als wäre es nicht so gewesen. Vielleicht sollte man nicht laut sagen, was man leidend und zweifelnd erlebt hat. Vielleicht ahnten sie, dass ihr Leben von heute an nichts Besonderes mehr bieten würde, und kamen deshalb so oft zurück auf das Leid und die Erinnerung, die ihre Häupter wie ein Heiligenschein umgaben. An seiner Stelle hätte Onkel Ion überhaupt nichts von alldem erzählt, sagte ich mir und wandte mich mit unerfindlichem Groll und gegen das Gähnen geblähten Nasenlöchern nach ihm um.
    Â»Bei Ihnen hat man einen Fehler gemacht, haben sie mir gesagt. Fast hätte ich ihnen was entgegnet, aber ich habe geschwiegen, wer weiß, wo ich da wieder hineingeraten wäre … Immerhin, siehe da, die Jahre dort werden mir als Arbeitsjahre für die Rente angerechnet – gibt es überhaupt eine deutlichere Anerkennung meiner Unschuld?«
    Unten erhob sich die neue Stadt über der alten, als wollte sie von ihr nichts wissen, ein hybrides Gemisch aus Blocks, zum Teil früh gealtert, zum Teil noch nicht fertig, und alten Häusern mit blätterndem Putz und bröckelnden Stuckfassaden. Ich hatte mich ein wenig zurückfallen lassen, da hörte ich Mutter. Sie redete schon eine ganze Weile, mit einem Mal aber wurde ihre Stimme schrill wie immer, ich kannte das, wenn sie auf Streit aus war. »Wärst du direkt zu uns gekommen, gleich als sie dich rausgelassen haben, hättest du ihn noch lebend angetroffen …«
    Vaters

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