Der gleiche Weg an jedem Tag
meinen Ohren.
»Ich bitte euch, sagt eure Meinung«, wiederholte der Abgeordnete.
Alle schwiegen wir, sahen zum Fenster hinaus oder an der Wand hinauf, ab und zu, wenn eine Bank knarrte, erschraken wir, aber da war nichts, es hatte sich nur jemand gebückt, um seinen Schnürsenkel zu binden. Wenn sich lange niemand meldete, würde man zur Abstimmung schreiten, und das wärâs dann gewesen. Den Ausschluss aus dem Jugendverband würde Ene ein Leben lang mit sich herumtragen wie ein Kainsmal auf der Stirn.
Da wurde mir bewusst, dass es mir gar nicht mehr um Ene ging, obwohl wir unterwegs zur Sitzung so viel über ihn geredet hatten. »Es müssen ihn gleich mehrere verteidigen«, hatte ich da gesagt, »vielleicht hängen ganze Jahre seines Lebens von diesen Stunden ab, von uns.« Weshalb freuten wir uns bloà geradezu überschwänglich, dass er uns brauchte? Als wir selbstbewusst den Saal betreten und eine ganze Reihe für die Leute aus unserer Gruppe freigehalten hatten, da hatten wir uns anders gefühlt als gewöhnlich. Doch jetzt saà ich stocksteif da, um ja nicht Nanas vorwurfsvollem Blick zu begegnen. Nein, ich würde nicht aufstehen und über ihn sprechen, dazu war ich nicht imstande. Ich kenne den Genossen Ene seit mehr als einem Jahr, müsste ich sagen, von Seminaren, Prüfungen, vom patriotischen Arbeitseinsatz, ich kann mich für seine Gewissenhaftigkeit und seine Loyalität verbürgen ⦠Er ist ein arbeitsames Element und geht auf im Dienst der Sache, rief ich in Gedanken, wobei ich meine schweiÃnassen Finger knetete, trotz aller unangebracht erscheinenden ÃuÃerlichkeiten, die er korrigieren sollte ⦠muss ⦠Das alles sagte ich mir immer wieder und schwieg weiter mit gesenktem Gesicht, meine Ohren glühten unterm Haar; zwar tat ich den Mund nicht auf, aber ich wusste, wie dieser Saal aussehen würde, wenn alle Augen auf mich gerichtet wären. All diese Augen, die jetzt zu Boden starrten oder nach vorn zu dem langen Tisch des Präsidiums mit dem roten Tischtuch, einer Wasserkaraffe mit drei Gläsern auf einem Plastiktablett in der Mitte, all diese Augen würden sich plötzlich auf mich richten. Ich habe solche Angst davor, dass ich mich empört frage, wieso eigentlich ich aufstehen sollte. Sollen doch die Jungs aufstehen, sollen doch Didi oder Marilena aufstehen, irgendjemand, wer auch immer ⦠Nein, ich werde nicht aufstehen, nicht ausgerechnet ich, denn ich habe nicht nur Angst vor diesem Saal, es ist nicht nur das, das auch, aber da ist noch etwas anderes, das ich gar nicht richtig zu denken wage. Ich kann nicht aufstehen, ausgerechnet ich, die seit so langer Zeit eine alte ungeklärte Schuld mit sich herumschleppt, die ungewisse Schuld meines Onkels Ion, die unbestimmte Schuld meines Vaters, der für Vergehen seiner Familie gebüÃt hat, die zwanzig oder dreiÃig Jahre zurückliegen, aber was zählt das jetzt schon ⦠Gar nichts zählt es, nur ist mir so viel ungekannte Schuldenlast aufgebürdet worden, und ich habe sie vor langer Zeit auf mich genommen, ehe ich mich versah. Und dieser Hohlraum der Angst, den ich spüre, sooft ich mir vorstelle, dass ich aufstehen und reden und der ganze Saal sich nach mir umdrehen könnte, dieser Hohlraum rührt daher. Nie habe ich gewagt, in einer Sitzung das Wort zu ergreifen, immer habe ich Abstand gehalten, um meine Schuld nicht herauszufordern. Vielleicht würde es nämlich schon reichen, dass ich aufstand und die Worte sagte, die ich vorbereitet, die ich unablässig geübt hatte, und schon würde der Abgeordnete der Universitätszentrale seinen schwerfälligen Leib im maÃgeschneiderten Anzug aus feinem Zwirn ruckartig aufrichten: »Und Sie, die Sie da gerade reden, was sind denn Sie für ein Element? Sehen wir uns die Sache doch mal an â¦Â«, könnte er sagen und mich mit diesen vorwurfsvollen Augen anschauen, deren Blick ich schon lange erwartete.
Was ich für ein Element war, darüber hatte ich eigentlich nie richtig nachgedacht, und doch sah man mir alles, was ich über die Jahre gelesen und im Kino gesehen hatte, an. Auch jetzt konnte ich gar nicht anders, als meinen verschleierten Blick von meinem bebenden, angsterfüllten inneren Wesen abzuwenden: Ich kannte gar keinen anderen Zustand als den der Angst.
Ich wusste nicht einmal mehr, ob ich etwas zu sagen wüsste, ich
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