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Der gleiche Weg an jedem Tag

Der gleiche Weg an jedem Tag

Titel: Der gleiche Weg an jedem Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Adamesteanu
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wusste nur, dass ich den Mut dazu nicht hatte, so, wie ich jetzt dasaß, hatte auch Onkel Ion in vielen Sitzungen dagesessen. Jetzt erst hatte ich das Gefühl, ich hätte sie alle erlebt, ich hielt den Kopf genau so gesenkt wie er, mit demselben ungewissen Schuldgefühl und derselben Angst. Plötzlich war mir, als hätte ich Angst gehabt, so weit ich zurückdenken konnte, immer schon. In meinen dunklen Gehirngängen, in die mein Denken sich immer weiter zurückzog, begegnete es nichts anderem als der Angst und der Scham. Als würde ich dauernd zurückweichen, Schritt für Schritt. Jede Sekunde, die verstrich, ohne dass ich aufstand, war nichts weiter als ein Schritt, den ich zurückwich, noch ein Schritt und noch einer. Bis hinter mir nur noch die Wand war. Nur noch die raue, kalte Wand des Saales, an die mein weicher Körper zu stoßen schien, während ich mich mit den Händen an den Lehnen der Vordersitze festkrallte. Den anderen mochte es so vorkommen, als stünde ich aufrecht, doch ich wusste, dass ich vor Angst genauso schlotterte wie bisher, dass ich mich an der Wand hinter mir nur abstützte und dass mein verkniffener Mund trocken war und wortleer. Dann stand ich schließlich aufrecht vor ihnen, vorerst ohne ein Wort hervorzubringen, für den Augenblick überzeugt, dass ich dazu nicht imstande sein würde. Noch war ich gelähmt von der weißen Explosion des Entsetzens, das weit heftiger ausbrach, als ich erwartet hatte, noch vernichtender, als mein Name, ausgesprochen vom Sitzungsleiter, die staunende Stille des Saales erfüllte. Die Sitze knarrten, und alle Augen in den bunt gemischten Gesichtern musterten mich dermaßen gierig, als sähen sie mich zum ersten Mal. Selbst die Augen meiner Freunde, die sich dann aber scheu abwandten, um mich nicht in Verlegenheit zu bringen, denn sie begriffen meine Angst. Diese Angst, die ich endlich einmal herausfordern musste, um mich von meiner Schuld loszukaufen und sie dann jedes Mal, wenn ich irgendwo wieder aufstand, immer kleiner vorzufinden.
    Das Aufstehen hatte mich dieselbe Anstrengung gekostet wie die so lange durchgehaltene Weigerung, Petru anzurufen. Ich musste es wenigstens versuchen, eine andere zu sein, ich musste etwas tun. In dem Moment, als ich die Hand hob, geriet alles dermaßen durcheinander, dass ich weder reden noch schweigen wollte, mir war alles egal. Allerdings war mir klar, wenn ich mich jetzt nicht erhob, würde ich noch ewig Angst haben. So fürchtete ich mich immer weiter, bis ich mit erstickter Stimme die ersten Worte hervorbrachte. Über wen redete ich denn? Das war nicht wichtig … Wichtig war, dass ich reden konnte mit dieser Stimme, die immer wieder brach und Lücken riss zwischen Worten, die mir bekannt vorkamen. Sogar die Intonation kannte ich im Voraus, auch die Satzanfänge, alles wusste ich, und nach einer Zeit legte ich absichtlich Pausen ein, damit meine Worte lange genug dort unter ihnen blieben, damit sie ihnen glaubten, wenngleich ich selbst, obwohl ich sie aussprach und mich immer mehr an meinem Mut und meiner Großzügigkeit berauschte, überhaupt nicht mehr daran glaubte.
    *
    Nach der Hitze des Tages war der Abend unerwartet kühl, deshalb gingen wir schnell, redeten und lachten laut, stießen uns mit den Ellbogen an und versuchten, ohne uns eigentlich dessen bewusst zu sein, den neidischen Ärger der Passanten zu erregen. Auch ich lachte, ebenso grundlos und schallend wie die anderen, noch nie war ich wie jetzt aufgegangen in all ihren Bewegungen, all ihren Gesten. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass Sergiu, obwohl unsere Gruppe immer wieder auseinanderfiel und sich anders wieder zusammenfand, unentwegt an meiner Seite blieb.
    Â»Ach ja, etwas wollte ich dir noch sagen …«, rief er mir nach, als er uns alle bis vor die Kantinentür begleitet hatte. »Ich war dieser Tage im Institut, ich habe dort irgendwelche Angaben für eine Arbeit gesucht, die ich … Egal, es hat keinen Sinn, in Einzelheiten zu gehen«, sagte er, plötzlich verlegen, mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Was ich sagen wollte: Ich habe dort Petru Arcan getroffen, bei dem wir letztes Jahr Prüfung hatten … Er war sehr nett, er ist mit mir gegangen und hat mir beim Suchen geholfen, unter anderem hat er nach dir gefragt, ob wir Kommilitonen sind … Er hat gesagt, du hast auch etwas in Arbeit und er wundert sich, dass du gar nicht

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