Der gleiche Weg an jedem Tag
warteten die Leute in Gruppen, reckten ihre Hälse nach dem blanken Schienenstrang, schimpften über den Nahverkehr wie in den verregneten oder verschneiten Morgenstunden. Zu ihren FüÃen trockneten die Fahrkarten in der Sonne, und nebenan hockten zwei Zigeunerinnen wachsam neben ihren Körben mit Tulpen, die sie mit Wasser bespritzt hatten.
»Nur dass duâs weiÃt«, sagte Mutter, trat heraus auf die Schwelle zum Balkon und lehnte sich an den Türrahmen. »Nur dass duâs weiÃt, ich wollte es dir immer schon sagen, ich habe ein paar Ordner von Ion mitgebracht. Ich habe mir gedacht, du könntest vielleicht etwas damit anfangen â jemanden finden, der sie veröffentlicht â¦Â«
»Ich könnte was? Meinst du, ich könnte etwas?«, fragte ich verblüfft, mit unsicherer Stimme.
Sie aber fuhr fort, auf einmal schmallippig vor Verbitterung: »Es wäre einen Versuch wert. Wenigstens so viel sollten wir für ihn tun â¦Â« Worauf ihre Stimme wieder weicher wurde: »Vielleicht gibtâs unter deinen Professoren jemanden. Oder ehemalige Schüler von ihm â¦Â«
»Ich kenne keinen, der könnte ⦠Für so etwas braucht man Beziehungen â¦Â«
Mutter wandte mir nur ihr unerbittliches Gesicht zu und musterte mich, wie sie BiÅ£Ä musterte, wenn er morgens gut gelaunt aufstand.
*
Ich lehnte mich wieder über das Balkongeländer und betrachtete die rauchgeschwärzten wachsbeträufelten Steinfliesen vor der Kirche. Windschiefe überhängende Kerzen krümmten sich dort in der Sonne. Sie hatten die Nacht durch gebrannt, dass das Dunkel der StraÃen von den Lichtern in den Händen der Leute erhellt wurde. In den Gässchen um die Kirche ergoss sich die wuselnde Menschenmenge von den Gehsteigen auf die Fahrbahn und brachte den Autoverkehr zum Erliegen. Besorgte Frauen, die ihre Kerzen in weiÃen, für Speiseeis bestimmten Plastikbechern vor sich her trugen, riefen nach ihren Kindern, die Jugendlichen, manche eng umschlungen, standen grinsend am Rand und hatten ihre Transistorradios aufgedreht. Der aufkommende Wind trug hin und wieder die Stimme des Priesters heran, dann geriet die Menge unter dem rötlich angeleuchteten Blattwerk der Bäume in Wallung. Vorne waren schon ein paar Kerzen angezündet worden, und etliche Leute bahnten sich mit den Schultern einen Rückweg zu den Autos, wobei sie ihre Lichter mit der gewölbten Hand schützten. Die anderen standen demütig und verärgert wie in einer Schlange an, zündeten ihre Kerzen, die der Wind immer wieder ausblies, stets von neuem an und verständigten sich durch Zurufe, um möglichst schnell zum Essen oder zum anschlieÃenden Fest zu kommen. Man hörte das Wachs zischen, die Mädchen strichen ihre langen Haare zurück, damit sie nicht Feuer fingen, und die kleinen Kinder in den Armen der Eltern wimmerten vor Angst angesichts der vielen Leute.
»Kooommet und hooolet das Liiicht â¦Â« Der Priester rief in die Menge, die schon so lange mit brennenden Kerzen wartete. Und mit einem Mal brandete das Lied durch die StraÃen und erhob sich über der Stadt.
Sie nahmen es immer wieder von Anfang auf und sangen es, ein jeder hörte nur die eigene Stimme, die sich unter den vielen anderen verlor. »Christ ist von den Toten erstanden, mit dem Tod über den Tod hinweg schreitend â¦Â«
Sie wussten nicht, was sie sangen, über die Stimme eines jeden erhoben sich die Stimmen der anderen und stiegen hinauf in die Nacht des neuen Frühlings, durch die rosig-weiÃen Kastanienblüten und die blauen Fliederbüsche empor. Man hörte Autos durchstarten, in Scharen lösten sich die Menschen und eilten zu den üppig gedeckten Tafeln mit bunten Eiern und frischem Salat und Schweinebraten, der statt des Lammbratens herhalten musste. Sie würden anstoÃen und aufstehen und tanzen und den Augenblick vergessen, der sich schwer auf sie herabgesenkt hatte, während sie gesungen hatten, ohne zu wissen, was.
»Und jenen in den Grääbern das Leeeben neu bereitend â¦Â«
Nur Mutter wusste, was die da sangen, während sie ihnen hier oben, auf dem Balkon der Junggesellenwohnung von BiÅ£Ä, lauschte. Die Ellbogen auf das Geländer gestützt, lehnte sie störrisch, mit feindselig verkniffenen Lippen da. Hinter ihr die alten Möbel, die BiÅ£Ä schon lange aufgegeben und jetzt, da
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