Der globale Polizeistaat
Waffentransporte nutzten sie den amerikanischen Dampfer »Caroline«, der ansonsten ganz friedlich am Flussufer der Vereinigten Staaten vertäut lag.
Eines Nachts setzte ein britisches Kommando über den Niagarafluss. Die Truppe bemächtigte sich der »Caroline« und zündete sie an. Dann ließen die Soldaten das führerlose Schiff die Niagarafälle hinunterstürzen. Zwei der amerikanischen Besatzungsmitglieder kamen ums Leben.
Der »Caroline«-Fall, was Wunder, führte zu diplomatischen Verwicklungen zwischen Großbritannien und seiner ehemaligen Kolonie Amerika. Der amerikanische Außenminister Daniel Webster beschwerte sich bei seinem britischen Kollegen Lord Ashburton wegen des unglaublichen Übergriffs der einstigen Kolonialmacht auf das Hoheitsgebiet der Vereinigten Staaten von Amerika. Amerikanische Bürger, amerikanisches Eigentum waren durch britische Hand zu Schaden gekommen.
Ashburton, der Brite, gab zurück: Es habe sich um einen Akt der Selbstverteidigung gehandelt, es sei das »naturgegebene Recht« aller Staaten, um sich vor Angriffen zu wehren.
Von wegen naturgegebenes Recht, entgegnete der Amerikaner, die Verteidigung richtete sich gegen Angriffe von Rebellen, Gangstern, Terroristen, wie auch immer: Die Vereinigten Staaten hätten damit nichts zu tun, für das Unrecht von Verbrechern sei die Justiz zuständig, nicht das Militär. Da könnte ja jeder kommen und amerikanische Schiffe anzünden.
Der Brite gab zu bedenken, dass es sich um eine Aktion des Britischen Empire in höchster Not gehandelt habe: Seine Leute könnten den von Webster geforderten Beweis einer »necessity of self-defence, instant, overwhelming, leaving no choice of means, and no moment for deliberation« führen. 22
Man mag die Begründung glauben oder nicht, den Amerikanern hat sie damals jedenfalls gereicht. Der »Caroline«-Fall ist seitdem in die Völkerrechtsgeschichte eingegangen: In Extremfällen,
so die Lehre, sei es völkerrechtlich in Ordnung, wenn ein Staat gegen Angriffe von außen mit militärischer Gewalt vorgeht, auch wenn die Angriffe nicht von einem feindlichen Staat, sondern von - na ja, heute würde man sagen: Terroristen - ausgehen.
Völkerrecht ist zum Teil Gewohnheitsrecht, es entsteht durch tatsächliche Übung der Staaten, durch gute und auch durch schlechte Gewohnheiten. Völkerrecht ist also nicht immer gerecht, sondern oft Ergebnis diplomatischer Kosten-Nutzen-Abwägungen, politischer Kompromisse oder einfach des Kräfteungleichgewichtes der Beteiligten. Zu Zeiten des Dampfers »Caroline« mag es an den Niagarafällen ein Gebot der Klugheit gewesen sein, sich mit den - aus amerikanischer Sicht - anmaßenden und mächtigen Briten nicht weiter anzulegen. Heute sind die damals düpierten Amis wahrscheinlich froh drum. Denn was damals Ergebnis des Briefwechsels zwischen dem amerikanischen und dem britischen Außenminister war, ist heute gut zu gebrauchen als Rechtsgrundlage für den Krieg gegen den Terror: Ein Staat wehrt sich mit seinem Militär gegen Terrorakte ausländischer Gewalttäter - und das auf dem Gebiet anderer Staaten, in Afghanistan oder Jemen, in Deutschland oder Großbritannien. Wenn dabei gelegentlich Zivilisten aus dem Hoheitsbereich anderer Länder zu Schaden kommen oder deren Eigentum den Bach runtergeht, dann ist das, völkerrechtlich gesehen, ein hinzunehmender Kollateralschaden.
Der Dampfer »Caroline« tauchte wieder auf, als am 11. September 2001 die Twin Towers in Manhattan kollabierten. Die Attacke der Flugzeuge in Terroristenhand - an einen solchen Fall hatte Ashburton damals wohl gedacht: Eine »Necessity of self-defence, instant, overwhelming, leaving no choice of means and no moment for deliberation«. »Das ist der Krieg«, rief im Angesicht der brennenden Türme überwältigt der damalige Senator und spätere Präsidentschaftskandidat John McCain aus, no moment of deliberation . Und in Europa zog der SPIEGEL seinen Erscheinungstag von Montag auf Samstag vor, um instant die Schlagzeile in die Welt zu bringen: »Krieg im 21. Jahrhundert«.
Was da Unglaubliches in Amerika passierte, war so offenkundig Krieg, dass die ganze Welt zustimmend nickte, als der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gleich am folgenden Tag seine Resolution 1368 verabschiedete, in der er - »in Anerkennung des naturgegebenen Rechts zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung in Einklang mit der Charta« - nicht nur »unmissverständlich mit allem Nachdruck die grauenhaften
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