Der globale Polizeistaat
Genfer
Kriegsrechtskonventionen zuerst für innerstaatliche Auseinandersetzungen anerkannt und gilt nach verbreiteter Ansicht mittlerweile auch für Kämpfe von Gruppen gegen den Staat, die nicht innerhalb des Staatsgebietes stattfinden - wie zum Beispiel die Auseinandersetzung Israels mit palästinensischen Terrortrupps in den Nachbarländern. Bei allem Ungleichgewicht der Kampfstärke besteht in solchen Situationen immerhin kein so krasses Missverhältnis, wie wir es im Unterordnungsverhältnis zwischen Bürger und Staat aus dem Bereich der Innenpolitik kennen. Das Gegeneinander von Mensch und staatlicher Machtmaschine ist im Bereich staatlicher Souveränitätsausübung in Wahrheit ein Übereinander, und weil diese Art von Asymmetrie so erdrückend sein kann, eben rechtlich gebändigt. Der Krieg als die rechtlich kaum gebändigte Form der Gewalt ist dabei ein zu hartes, ein unnötig hartes Mittel.
Dies war es im Kern, was Clinton angesichts der Aufnahmen aus der Tarnak-Farm gedacht oder gespürt haben muss. Was also würde seine Entscheidung sein? Krieg mit Bin Laden? Der Präsident ließ sich die Fotos vom Zielgebiet der Raketen seines Militärs immer weiter vergrößern. Da, auf einem Ausschnitt entdeckte er eine hölzerne Kinderschaukel.
Das gab, berichtet Steve Coll, schließlich den Ausschlag: Der Präsident sagte die Operation ab.
»Amerikanische Ideale«
Schaukeln im Krieg - Wirklich gute Nerven - Lob des Oppor-
tunismus - Der Clinton-Konflikt - Wir treffen alle wieder -
Wie es gehen könnte
Kriegskitsch? Ganz falsch. Es war eben kein Krieg, den Clinton mit Al Kaida wollte. Der Präsident bestand darauf, auch im Falle schwerster Bedrohung und größter Versuchung die Grenze zwischen Krieg und innerer Sicherheit zu wahren. Es ging um ein
Problem der inneren Sicherheit. Ausdrücklich hat Clinton es abgelehnt, Bin Laden zum Feind zu erklären: Der Mann war ein Fall für die Polizei. Im Krieg geht es zu, wie es zuging, als Israel 2009 unter Berufung auf sein Selbstverteidigungsrecht gegen Hamas im Gazastreifen zu Felde zog. Innerhalb einer Woche starben durch israelische Waffen Hunderte von Menschen auf der gegnerischen Seite. Auf Kinderschaukeln und deren unschuldige Benutzer konnte da niemand Rücksicht nehmen. So etwas heißt im Krieg »Kollateralschaden«. Die Entscheidung Clintons im Angesicht der Holzschaukel war eine überhaupt nicht kitschige Entscheidung für die Grenzen der polizeilichen Handlungsmacht des Staates - und für das damit verbundene Risiko, dass der Mann, der so viel Unheil zu bringen versprach, sein Versprechen halten könnte.
Natürlich war auch in diesem Oktober 2000 die Welt nicht so heil, wie sie hier rekonstruiert wird. Natürlich hat Clinton, gibt auch Coll zu bedenken, seine Entscheidung ganz opportunistisch getroffen: Sein Vize Al Gore war gerade in der Schlussphase des Wahlkampfes um die Präsidentennachfolge. Da hätten Fernsehbilder von toten Kindern und zerfetzten Schaukeln zumindest dann dem Ruf der Clinton- und Al Gore-Demokraten geschadet, wenn das Ziel des Angriffs, der Weltbösewicht, zugleich verfehlt worden wäre. Und dieses Risiko bestand immerhin. Aber ist solcher Opportunismus nicht zu loben? Kann uns ein Präsident nicht Vertrauen einflößen, der Angst hat, in der Öffentlichkeit als rücksichtsloser Krieger dazustehen? Ist die sentimentale Achtung einer Kinderschaukel im Angesicht des Bösen nicht in Wahrheit ein Ausdruck guter Nerven?
Es braucht gute Nerven, die Grenzen zwischen Krieg und Frieden zu wahren. Jeder Politiker, der sich bescheidet mit den Mitteln, die ihm das Recht in die Hand gibt, der Menschenrechte und den Rechtsstaat respektiert, braucht gute Nerven. Denn er geht das Risiko des Scheiterns ein. Doch Clintons Entscheidung wird nicht dadurch widerlegt, dass der Mann, den die Amerikaner
alsbald zu seinem Nachfolger wählten, nach dem 11. September die Nerven verlor.
Dennoch: Da ist etwas, ein Niemandsland zwischen Krieg und Frieden, zwischen Militär und Polizei, zwischen innerer und äußerer Sicherheit. Die Geschichte mit der Schaukel ist ein Fall, der geeignet ist, die Abgrenzung infrage zu stellen. Wenn sich im Fall Osama Bin Ladens und seiner Al Kaida die Grenze nicht aufrechterhalten lässt, könnte Wolfgang Schäuble doch noch recht bekommen.
Die Symmetrie im staatlichen Krieg gegen einzelne Terroristen, und seien sie so schlimm wie Bin Laden, lässt sich nicht konstruieren. Es handelt sich auch bei Al Kaida nicht um eine Truppe
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