Der globale Polizeistaat
den Lehmmauern zuging, wusste der US-Geheimdienst sehr genau. Nicht nur war die Farm seit Langem im Fadenkreuz von Satellitenkameras. Über der Tarnak-Farm probierten die Amerikaner zudem ihre neue Predator -Technik aus. Predator heißen die Drohnen, die ferngesteuert mit ihren Kameras den Feind sogar noch am Esstisch auf der Terrasse beobachten können. Kein Detail der Menüfolge entgeht ihnen. Selbst ein Sprung in Osamas Gemüseschüssel, falls es ihn gab, wäre dem Weißen Haus aufgefallen.
Dann, gut drei Monate vor Ende der Amtszeit Clintons im Oktober 2000, ein heißer Tipp von Verbindungsleuten der CIA in Afghanistan: Es lasse sich mit Bestimmtheit sagen, in welcher Nacht Bin Laden bei seiner Familie auf der Tarnak-Farm sein werde. Ein idealer Zeitpunkt, zuzuschlagen. Eine Rakete. Genau ins Schlafzimmer.
Tagelang saßen Geheimdienstler mit Militärs und Experten des Weißen Hauses zusammen, um den Schlag vorzubereiten. Sie beugten sich über Pläne der Anlage, über die Zimmeranordnung, sie studierten die Statik der kleinen Hütten: Wie könnte man ein Geschoss so setzen, dass zwar mit Sicherheit der Hausherr, aber möglichst wenig Unbeteiligte auf der Farm getötet würden. Was würde zum Beispiel passieren, wenn die Druckwelle der Explosion die Wände der Wohnhäuschen eindrücken und diese deren Bewohner unter sich begraben würden? Welche Auswirkungen hätte sie auf die kleine Moschee auf dem Gelände? Trigonometrische Berechnungen wurden in Auftrag gegeben: Die Berechnung der Gewalt sollte sicherstellen, dass auf der Tarnak-Farm nichts geschah, was unverhältnismäßig erscheinen musste. »Das war das erste Mal in der Geschichte, dass die Führer einer Militärmacht tagelang in Konferenzen über mathematische Feinheiten ihrer Zerstörungskraft stritten«, schreibt Steve Coll, einer der leitenden Redakteure der Washington Post . Pulitzerpreisträger Coll hat später mit Clinton über diese Tage und Nächte gesprochen. 20
Clinton selber habe, berichtet Coll, schließlich die Vorlage der Aufnahmen aus der Tarnak-Farm verlangt. Ein Einblick in das Familienleben dieser Menschen: Frauen, Kinder, Wäsche auf der Leine zwischen zwei Hütten. »Ich hatte das Gefühl«, sagte Clinton später zu Coll, »er wolle mich herausfordern, die alle zu töten.« Er: Osama Bin Laden.
Was mag dem Präsidenten durch den Kopf gegangen sein?
Sollte der mächtigste Mann der Welt die Tarnak-Farm unter Kriegsrecht stellen und mit Raketen beschießen, egal wie viele Tote das kostet? Oder sollte er das Risiko des Friedens auf sich nehmen, zwar edel, aber vielleicht unangemessen?
Gemessen an dem, mag sich der Präsident gesagt haben, was so über die Grenzen der inneren Sicherheit geschrieben wird, spielt der Fall Osama Bin Laden in der Außenwelt. Eine Angelegenheit der inneren Sicherheit wäre Al Kaida nur dann, wenn im Rahmen der US-Verfassung Regeln zu finden wären, nach denen der Fall zu behandeln ist. Nun gibt die Verfassung keiner amerikanischen Behörde die Rechtsmacht, außerhalb des US-Hoheitsgebietes mit den Mitteln des Rechts zu handeln.
Für die Behandlung des Falles innerhalb der amerikanischen Rechtsmacht gibt es andererseits jede Menge Regeln des Strafrechts und polizeiliche Befugnisse, aber es steht im Innern keine Ursache für Bedrohungen zur Verfügung, die Anknüpfungspunkt rechtlich geordneten Eingreifens sein könnte. Für einen Politiker, der die Nerven bewahrt, handelt es sich tatsächlich um ein Problem der inneren Sicherheit, das sich aber erst dann lösen lässt, wenn irgendwelche Anhaltspunkte für geplante Attentate auftauchen, denen mit den Mitteln des amerikanischen Rechts entgegengetreten werden kann.
Nun kann man als Präsident immerhin versuchen, das Recht der Vereinigten Staaten so weit auszuweiten, dass es auch Reaktionen auf äußerst vage Anhaltspunkte erlaubt. Doch die Ausweitung hat ihre Grenzen: Vorgänge, die sich vollständig außerhalb Amerikas abspielen, sind auch durch sehr weitreichende Ermächtigungen vom amerikanischen Recht nicht zu bremsen. Es ließe sich allerdings entgegenhalten, dann müsse man halt zuwarten, bis sich die Bedrohung derart konkretisiert, dass sie die Grenzen der Rechtsordnung von außen erreicht hat. Im Falle Al Kaidas wäre das beispielsweise die Einreise zum Terror entschlossener Mitglieder der Bande. Doch diese Lösung ist zumindest problematisch, weil angesichts der jüngsten Erfahrungen dann die Risiken, dass es für Maßnahmen der Gefahrenabwehr zu
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