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Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
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Galgen, alle diese Vorstellungen drängten sich ihrem Geiste bald als singende, vergoldete Visionen, bald als mißgestalteter Alp auf; doch schien ihr das eine nur als ein furchtbarer Kampf, der sich im Dunkel verlor, das andere als eine ferntönende Musik, die auf der Erde gespielt ward und nicht bis in die Tiefe drang, wohin die Unglückliche hinabgesunken war. Alles dies mischte sich zerbrochen, schwankend, verwirrt in ihren Gedanken. Sie fühlte, wußte, dachte nichts mehr, sie träumte. Noch nie war ein Geschöpf so tief ins Nichts versunken.
    Erstarrt, versteinert, hatte sie kaum bemerkt, daß bisweilen eine Falltür, ohne selbst einen Lichtstrahl hereinzulassen, sich über ihr öffnete, und daß dann eine Hand ihr ein Stück schwarzes Brot hinwarf. Dieser Besuch des Gefangenenwärters war demnach ihre einzige Verbindung mit den Menschen. Nur ein Laut traf mechanisch ihr Ohr. Über ihrem Haupte sickerte Feuchtigkeit durch die moosigen Steine des Gewölbes, und in kleinen Zwischenräumen fielen Wassertropfen herab. Stumpf hörte sie den Schall, wenn der Tropfen in den Pfuhl hinabfiel. Dieser niedersinkende Wassertropfen war die einzige Bewegung, die sich in ihrer Umgebung regte, die einzige Uhr, die ihr die Zeit andeutete, der einzige Laut, der von der Oberfläche der Erde zu ihr hinabdrang. Bisweilen fühlte sie auch in dieser Kloake von Sumpf und Dunkel etwas Kaltes, das über Arm und Fuß ihr hinkroch. Dann bebte sie. Wie lange war sie schon hier? Sie wußte es nicht.
    Eines Tages oder in einer Nacht (denn Mittag oder Mitternacht hatten in diesem Grabe gleichen Schatten), vernahm sie über ihrem Haupte ein stärkeres Geräusch als das des Gefangenenwärters, wenn er ihr Brot und den Wasserkrug brachte. Sie sah einen rötlichen Lichtstrahl durch die Spalten der Falltür am Gewölbe des „In pace“ dringen. Zugleich kreischten die dumpfen Riegel, die Falltür knarrte in den Angeln, sie sah eine Laterne und zwei Männer. Das Licht wirkte so empfindlich auf ihre Augen ein, daß sie sie schloß.
    Als sie die Augen wieder aufschlug, war die Tür geschlossen. Die Laterne stand auf einer Stufe der Treppe und ein Mann allein vor ihr. Ein schwarzer Mantel reichte ihm bis zu den Füßen, eine Kapuze derselben Farbe barg sein Gesicht. Einige Minuten beschaute sie mit starrem Blick dieses Gespenst. Keiner sprach ein Wort; sie glichen zwei einander gegenüberstehenden Statuen.
    Endlich brach die Gefangene das Schweigen. „Wer seid Ihr?“ – „Ein Priester.“ Sie zitterte bei dem Wort, dem Akzent und der Stimme.
    Der Priester fuhr in dumpfem Tone fort: „Seid Ihr bereit?“ – „Wozu?“ – „Zum Tode.“ – „Bald?“ – „Morgen.“
    Ihr Haupt, das sie freudig erhoben hatte, sank auf ihre Brust zurück. „Das dauert noch sehr lange!“ murmelte sie. „Warum nicht heute?“
    „Ihr seid wohl sehr unglücklich?“ fragte der Priester nach einer Pause. – „Mich friert.“
    Der Priester schien unter seiner Kapuze seine Augen im Gefängnisse herumstreichen zu lassen. –„Ohne Licht und Feuer! Im Wasser! Wie furchtbar!“
    „Ach!“ erwiderte sie mit der Miene des Erstaunens, die ihr das Unglück verliehen hatte; „der Tag gehört allen. Warum gab man mir nur die Nacht?“ – „Wißt Ihr“, fragte der Priester nach einer neuen Pause, „weshalb Ihr hier seid?“ – „Ich glaube, ich wußte es“, antwortete sie und fuhr mit ihrer mageren Hand über die Stirn, als wollte sie ihrem Gedächtnis nachhelfen. Dann weinte sie wie ein Kind. – „Mich friert, ich fürchte mich, denn die Tiere kriechen mir über den Leib.“ – „Gut, folgt mir!“ Der Priester ergriff sie beim Arme. Die Unglückliche war erstarrt; aber dennoch schauderte sie beim Druck dieser Hand.
    „Ach“, murmelte sie, „es ist die kalte Hand des Todes! Wer seid Ihr?“
    Der Priester hob seine Kapuze auf; sie sah das unheilvolle Antlitz, das sie schon so lange verfolgte, jenes Geisterhaupt, das kürzlich über dem angebeteten Haupte ihres Phoebus schwebte, dasselbe Auge, das sie neben dem Dolche funkeln sah. Der Schleier, der auf ihrem Gedächtnis ruhte, zerriß. Alle Einzelheiten ihres nächtlichen Unglücks, von der Szene bei der Falourdel bis zu ihrer Verurteilung in der Tournelle stürmten auf einmal auf sie ein, nicht unbestimmt und verwirrt, wie früher, sondern genau, mit scharfen Umrissen, furchtbar. Alle diese durch das Übermaß der Leiden erloschenen und halb verwischten Erinnerungen belebten wieder die düstere

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