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Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
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Gestalt, die sie vor sich erblickte, so wie das Feuer auf weißem Papier unsichtbare Buchstaben hervorspringen läßt, die man mit sympathetischer Tinte niederschrieb. Es schien ihr, als würden alle Wunden ihres Herzens plötzlich aufgerissen und bluteten. „Ach“, rief sie, „es ist der Priester“, und bedeckte krampfhaft ihre Augen mit den Händen. Dann ließ sie entmutigt ihre Arme sinken, saß da mit gesenktem Haupte, heftete den Blick zu Boden und zitterte. Der Priester betrachtete sie schweigend.
    Sie murmelte leise: „Schnell, schnell, den letzten Schlag.“ Dann drückte sie ihr Haupt zwischen die Schultern, wie ein Schaf, das den Schlag des Schlächters erwartet.
    „Ich erwecke Euch Schauder?“ sprach er endlich. Sie erwiderte nichts. „Erwecke ich Euch Schauder?“ wiederholte er seine Frage.
    Ihre Lippen zogen sich zusammen, als ob sie lächelte. – „Ja“, sprach sie, „der Henker verhöhnt sein Opfer. Schon seit Monaten verfolgt, bedroht, erschreckt er mich. Wie wär‘ ich glücklich ohne ihn! Er hat ihn getötet! Meinen Phoebus!“ Sie schluchzte und erhob ihr Auge zu dem Priester. „Elender! Wer seid Ihr? Was tat ich Euch? Ihr haßt mich! Was habt Ihr gegen mich?“ – „Ich liebe dich!“ rief der Priester aus.
    Plötzlich stockten ihre Tränen; sie beschaute ihn mit stumpfem Blick. Er lag auf den Knien und sein Auge sprühte Flammen.
    „Hörst du? Ich liebe dich!“ rief er noch einmal. – „Du liebst mich?“ sprach die Unglückliche bebend. – Er erwiderte: „Mit der Liebe eines Verdammten.“ – Beide schwiegen einen Augenblick, von der Heftigkeit ihrer Gefühle überwältigt; er glich einem Wahnsinnigen, sie einer Blödsinnigen.
    „Höre“, sprach endlich der Priester und zeigte eine sonderbare Ruhe, „du sollst alles erfahren; dir will ich sagen, was ich mir kaum selbst zu sagen wage, wenn ich mein Gewissen im tiefsten Dunkel der Nacht, wo Gott uns nicht mehr zu sehen scheint, befragte. Höre! Bevor ich dich schaute, Mädchen, war ich glücklich. Ja, ich war glücklich, oder glaubte es wenigstens zu sein. Ich war rein, meine Seele war durchsichtig – unbefleckt. Kein Haupt erhob sich strahlender und heiterer als das meinige. Priester holten sich bei mir Rat über Keuschheit, Gelehrte über Wissenschaft. Ja, die Wissenschaft war mir alles! Eine Schwester! Und eine Schwester genügte mir. Nur wie ich älter ward, faßte ich andere Gedanken. Mehr als einmal regte sich mein Fleisch, wenn ich an einem Weibe vorüberging. Die Gewalt des Geschlechtes und des Männerblutes, die ich, ein törichter Jüngling, für immer zu erdrücken wähnte, hatte schon so oft krampfhaft an der eisernen Kette des Gelübdes gerüttelt, das mich Elenden an die kalten Steine des Altars fesselte. Doch Fasten, Studien, Gebet, die Tötungen des Fleisches im Kloster hatten der Seele die Herrschaft über den Leib wieder erteilt. Auch mied ich die Weiber. Übrigens brauchte ich nur ein Buch aufzuschlagen und alle unreinen Dünste meines Gehirns verschwanden vor dem Glanz der Wissenschaft. In wenig Minuten empfand ich, wie die dichten Dünste der Erde weithin entflohen, und stand ruhig, aufrecht und heiter vor dem ruhigen Strahl der ewigen Wahrheit. So oft der Teufel mich zu versuchen nur unbestimmte Schatten von Frauen mir vorführte, die in Kirchen, Straßen und Wiesen vor meinen Augen vorüberzogen und in Träumen wiederkehrten, überwand ich leicht. Ach! Ist der Sieg mir nicht geblieben, so ist es die Schuld des Herrn, der den Menschen nicht mit gleicher Stärke wie den Teufel schuf. Höre! Eines Tages …“ Hier hielt er inne, und die Gefangene vernahm, wie seiner Brust ein röchelnder Seufzer entstieg; dann fuhr er fort:
    „Eines Tages lehnte ich am Fenster meiner Zelle. – In welchem Buche las ich doch? Oh, alles dies gleicht einem Wirbel in meinem Haupte. Ich höre Musik und den Schall eines Tamburins. Verdrießlich in meiner Träumerei so gestört zu werden, schaute ich auf den Platz. Was ich sah, sahen auch andere; und dennoch war es kein Anblick für Menschenaugen. In der Mitte des Platzes – es war Mittag – ein schöner Tag – tanzte ein Geschöpf, ein Geschöpf so schön, daß Gott sie der Jungfrau vorgezogen und zur Mutter gewählt hätte, um sich von ihr gebären zu lassen, als er Mensch ward. Schwarz und glänzend waren ihre Augen, mitten in ihren dunklen Locken schimmerten einige Haare vom Sonnenschein gefärbt wie Goldfäden. Ihre Füße verschwanden bei ihrer Bewegung gleich

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