Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
Augenblick, wo Quasimodo sich in Vermutungen erschöpfte, schien es ihm, die Bewegung komme in der Straße des Vorplatzes wieder zum Vorschein, die in gerader Linie auf die Vorderseite von Notre-Dame führte. So dicht auch die Finsternis war, sah er, wie eine Kolonnenspitze aus der Straße hervordrang und auf den Platz plötzlich eine Volksmasse ausgoß, von der man nur erkennen konnte, daß es ein Haufen Menschen war. Dieses Schauspiel bot etwas Schreckliches dar. Die sonderbare Prozession, die so sorgfältig im dichten Dunkel sich zu verbergen schien, beobachtete aber kein vollkommenes Schweigen. Ein Geräusch mußte aufsteigen, war es auch nur das Gestampf der Füße. Dies Geräusch gelangte nun zwar nicht zu unserm Tauben, aber die so in seiner Nähe sich bewegende und gehende Masse brachte bei ihm den Eindruck eines stummen, unkörperlichen, im Rauche sich verlierenden Haufens von Toten hervor. Es schien ihm, als nahe sich ein Nebel von Menschen, als regten sich Schatten im Dunkel.
Er ward wieder von Furcht ergriffen, und der Gedanke eines Unternehmens gegen die Zigeunerin drängte sich ihm auf. In dem Augenblick faßte er seinen Entschluß nach schnellerer und besserer Überlegung, als man bei einem so unvollkommen gebildeten Gehirn hätte erwarten sollen. Sollte er die Zigeunerin wecken und sie entwischen lassen? Aber wohin? Die Straßen waren besetzt, und die Kirche stieß hinten an den Fluß. Weder Schiff noch Ausgang! Er konnte nur einen Entschluß fassen: an der Schwelle von Notre-Dame sich töten zu lassen, so lange Widerstand zu leisten, bis vielleicht Hilfe käme, und den Schlaf der Esmeralda nicht zu stören. Die Unglückliche mußte früh genug erwachen, um zu sterben. Als er diesen Entschluß einmal gefaßt hatte, beobachtete er den Feind mit mehr Ruhe.
Die Masse auf dem Vorplatz schien mit jedem Augenblick anzuwachsen. Quasimodo vermutete, sie mache wenig Lärm, weil die Fenster und Türen des Platzes geschlossen blieben. Plötzlich glänzte ein Licht, und dann ragten sieben bis acht angezündete Fackeln über den Häuptern empor und schüttelten im Dunkel ihre Flammenbüschel. Quasimodo sah deutlich auf dem Platze eine Herde zerlumpter Männer und Weiber sich gleich Wogen kräuseln, sah Sicheln, Piken, Partisanen und Gartenmesser. Hin und wieder ragten schwarze Gabeln hervor. Er erinnerte sich dunkel der Volksmasse und glaubte die Köpfe wieder zu erblicken, die ihn vor einigen Monaten zum Narrenpapst gewählt hatten. Ein Mann, der in der einen Hand eine Fackel und in der andern eine Lanze hielt, stand auf einem Eckstein und schien eine Rede zu halten. Zugleich führte das sonderbare Heer einige Bewegungen aus, als nähme es Stellung rings um die Kirche. Quasimodo nahm seine Laterne und stürzte auf die Platte zwischen den Türmen, um mehr in der Nähe zu sehen und auf Verteidigungsmittel sinnen zu können.
Clopin Trouillefou hatte seine Leute vor dem Portale wirklich in Schlachtordnung aufgestellt. Ob er gleich keinen Widerstand erwartete, wollte er als kluger General Ordnung halten, so daß er im Notfall gegen einen Angriff der Wache oder der Sergeanten Front machen konnte. Es war übrigens kaum zu befürchten, daß der Sturm auf Notre-Dame von irgendeiner Seite gestört werden würde.
In den Städten des Mittelalters war eine Unternehmung wie die der Landstreicher gegen Notre-Dame nicht so selten. Was wir gegenwärtig Polizei nennen, war damals noch nicht vorhanden. In den volkreichen, besonders den Hauptstädten, war eine obere Zentralgewalt noch nicht gebildet. Das Lehnswesen hatte diese gewaltigen Kommunen auf sonderbare Weise eingerichtet. Eine Stadt war eine Ansammlung von tausend Herrschaften, die sich in Teile jeglicher Art und Größe schieden. Tausend Polizeien kreuzten sich, d. h. es gab keine Polizei. Alle diese Feudalherren erkannten die Oberherrschaft des Königs nur dem Namen nach an; jeder hatte sein eigenes Gericht in seinem Bezirk. – Nachdem die ersten Anordnungen getroffen waren, stieg der würdige Führer der Bande auf die Brüstung des Vorhofs, wandte sich gegen Notre-Dame, schüttelte die Fackel, deren vom Wind bewegte und im Rauche oft verhüllte Flamme die rötliche Fassade der Kirche den Augen abwechselnd zeigte und wieder verschwinden ließ, und rief mit rauher, drohender Stimme:
„Louis Beaumont, Bischof von Paris, Rat im Parlamentshofe, dir künde ich, Clopin Trouillefou, König von Thunes, Groß-Cosra, Prinz von Kauderwelsch, Bischof der Narren, wie folgt:
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