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Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
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stets auf die Freude, wie der Spondeus auf den Daktylus. Meister, ich muß Euch die Geschichte des Hauses Barbeau erzählen. Sie endet tragisch und ereignete sich 1319 unter Philipp V., dem längsten aller Könige von Frankreich. Die Moral von der Geschichte ist die Lehre, daß die Versuchung des Fleisches boshaft und verderblich ist. Seht die Frau Eures Nachbarn nicht zu scharf an, so sehr auch Euer Auge durch Schönheit sich kitzeln läßt. Die Wollust ist ein sehr frecher Gedanke; Ehebruch ein sonderbar Gelüst zum Vergnügen eines andern … – Oh, der Lärm verdoppelt sich dort!“
    Wirklich mehrte sich der Tumult um Notre-Dame. Sie horchten. Man hörte deutliches Siegesgeschrei. Plötzlich erschienen hundert Fackeln, in denen die Helme Bewaffneter funkelten, auf allen Höhen der Kirche, auf den Türmen, Galerien, unter den Gewölbepfeilern. Die Fackeln schienen etwas zu suchen, und bald konnten die Flüchtlinge deutlich die Worte vernehmen: „Die Zigeunerin! Die Hexe! Es sterbe die Zigeunerin!“
    Das Haupt der Unglücklichen sank in ihre Hände, und der Unbekannte ruderte mit heftiger Anstrengung wütend auf das Ufer zu. Unser Philosoph versank in Nachsinnen, er drückte die Ziege in die Arme und rückte sacht von der Zigeunerin fort, die sich stets näher an ihn drängte, als sei er der Einzige, der ihr bliebe. Gewiß war Gringoire in grausamer Verlegenheit. Er dachte, nach den bestehenden Gesetzen werde auch die Ziege gehängt, wenn sie wieder ertappt würde. Wie schade! Die arme Djali! Zwei Verurteilte neben ihm seien zu viel; auch sein Gefährte wünsche ja nichts mehr, als die Rettung der Zigeunerin auf sich zu nehmen. In seinen Gedanken entbrannte ein heftiger Kampf, worin er, wie Jupiter in der Ilias, die Zigeunerin und die Ziege gegeneinander abwog. Er beschaute sie nacheinander mit feuchten Augen und murmelte zwischen den Zähnen: „Ich kann Euch doch nicht beide retten!“
    Der Kahn stieß ans Land. Noch immer füllte der unheimliche Lärm die Altstadt. Der Unbekannte stand auf, ging auf die Zigeunerin zu und wollte sie am Arm ergreifen, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Sie stieß ihn zurück, hängte sich an Gringoires Ärmel, der sie seinerseits, mit der Ziege beschäftigt, beinah zurückstieß. Da sprang sie allein aus dem Kahn. Sie war so verwirrt, daß sie nicht wußte, was sie tat und wohin sie ging. Bewußtlos sah sie einen Augenblick das Wasser fließen. Als sie ein wenig wieder zu sich kam, stand sie mit dem Unbekannten allein an dem Hafen. Gringoire schien den Augenblick des Ausschiffens benutzt zu haben, sich mit der Ziege fortzustehlen. Die arme Zigeunerin erbebte, als sie sich mit dem Manne allein sah. Sie wollte sprechen, schreien, Gringoire rufen; ihre Zunge war im Munde wie erstarrt, und kein Laut kam über ihre Lippen. Plötzlich fühlte sie die Hand des Unbekannten auf der ihrigen. Sie war kalt und stark. Der Mann sprach kein Wort. Schnell ging er auf den Grèveplatz zu und riß sie mit sich fort. In dem Augenblick empfand sie, das Verhängnis sei unwiderstehlich. Sie hatte alle Hoffnung verloren und ließ sich fortreißen. Sie ließ den Blick nach allen Seiten hin schweifen. Niemand ging vorüber. Sie hörte nur den Lärm entfernter Männer in der tobenden und rotglühenden Altstadt, von der sie nur durch einen Arm des Flusses getrennt war, und von wo ihr Name, mit Todesgeschrei untermischt, bis zu ihren Ohren gelangte. Das übrige Paris war in Dunkel gehüllt.
    Der Unbekannte riß sie unter fortdauerndem Schweigen und mit gleicher Schnelligkeit fort. Sie wußte nicht, in welcher Gegend sie sich befand. Als sie endlich bei einem erleuchteten Fenster vorüberkamen, versuchte sie eine letzte Anstrengung und rief: „Zu Hilfe!“ Ein Bürger kam im Hemde mit einer Lampe zum Vorschein, sah mit stumpfen Blick auf den Kai, sprach einige Worte, die sie nicht verstand, und schloß den Fensterladen. Da erlosch für sie der letzte Hoffnungsschimmer.
    Der schwarze Mann sprach keine Silbe, er hielt sie fest und ging noch schneller. Sie folgte ihm mit gebrochenem Mute. Bisweilen sammelte sie ein wenig Kraft und sprach, von Stößen auf dem Pflaster und vom Keuchen unterbrochen: „Wer seid Ihr? Wer seid Ihr?“ – Er gab keine Antwort.
    So gelangten sie, den Kai hinablaufend, auf eine ziemlich großen Platz. Der Mond schien ein wenig. Sie standen auf dem Grèveplatze. Man sah in der Mitte ein großes, stehendes Kreuz; dies war der Galgen. Sie erkannte ihn und wußte jetzt, wo sie war. Der

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