Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
Verurteilte glaubte Hufgeräusch, das näher kam, zu hören. Sie faltete die Hände, sank außer sich, wahnsinnig vor Furcht, auf die Knie und sprach: „Habt Mitleid! Sie kommen, ich tat Euch nichts! Wollt Ihr mich vor Euern Augen so furchtbaren Todes sterben sehen! Gewiß, Ihr fühlt Mitleid. Wie schrecklich! Laßt mich fliehen! Laßt mich los! Gnade! So – so will ich nicht sterben.“
„Gib mir mein Kind zurück!“ sprach die Klausnerin. – „Gnade! Gnade!“ – „Gib mir mein Kind zurück!“ – „Laßt mich los im Namen Gottes!“ – „Gib mir mein Kind!“ Die Zigeunerin sank erschöpft, gebrochen nieder; ihr Blick war gläsern, als läge sie schon in der Grube. „Ach“, stammelte sie, „Ihr sucht Euer Kind, ich meine Eltern.“
„Gib mir meine Agnes“, fuhr Gudule fort. „Du weißt nicht, wo sie ist? So stirb! Ich war ein Freudenmädchen. Ich hatte ein Kind, Zigeuner stahlen es mir. Du siehst, jetzt mußt du sterben. Kommt deine Mutter, die Zigeunerin, dich zu suchen, dann sag’ ich: ‚Mutter, beschau den Galgen!‘ Gib mir mein Kind, Mädchen! Weißt du, wo es ist? Hier ist sein Schuh. Alles, was mir von ihm blieb. Weißt du, wo der andere ist? Wenn du es weißt, so sag es, und ist es selbst am andern Ende der Erde, will ich ihn auf den Knien suchen!“
Mit den Worten streckte sie auch diesen andern Arm aus der Luke und zeigte der Zigeunerin den kleinen gestickten Schuh. Es war schon so hell, daß Esmeralda Gestalt und Farben erkennen konnte.
„Zeigt ihn mir!“ rief die Zigeunerin bebend aus. „Gott! Gott!“ und zugleich öffnete sie heftig mit ihrer noch freien Hand den kleinen, mit grünem Glase geschmückten Beutel, den sie am Halse trug.
„Hole nur dein Amulett des Teufels hervor“, murmelte die Klausnerin. Plötzlich aber schwieg sie, zitterte an allen Gliedern und rief mit überlauter, furchtbarer Stimme: „Meine Tochter!“
Die Zigeunerin hatte einen kleinen Schuh aus dem Beutel gezogen, der durchaus dem andern gleich war. Daran war ein Pergament gebunden, worauf die Reime standen:
Hast du den andern Schuh gesehn,
Wird deine Mutter vor dir stehn.
Schnell wie der Blitz verglich die Klausnerin die beiden Schuhe, las die Inschrift des Pergaments, heftete ihr von himmlischer Freude strahlendes Antlitz auf die Eisenstangen und rief: „Meine Tochter! Meine Tochter!“
„Meine Mutter!“ erwiderte die Zigeunerin.
Eine solche Szene vermögen Worte nicht zu schildern.
Beide wurden durch die Mauern und die Eisenstangen voneinander getrennt. „Oh die Mauern!“ rief die Klausnerin aus; „sie zu sehen und nicht umarmen zu können! Deine Hand!“
Das Mädchen streckte den Arm durch die Luke; die Klausnerin stürzte sich wie eine Verschmachtende auf die Hand, preßte ihre Lippen darauf, versank gleichsam in diesem Kuß und gab kein anderes Lebenszeichen als ein Schluchzen, das von Zeit zu Zeit ihre Schultern hob. Sie weinte im Dunkel schweigend in Strömen, wie ein Nachtregen. Die arme Mutter leerte in Fluten auf dieser angebetenen Hand den tiefen Brunnen der Tränen, deren sie in ihrem Schmerz schon fünfzehn Jahre lang so viele vergossen hatte.
Plötzlich erhob sie sich, strich ihr langes graues Haar von der Stirn und riß, ohne ein Wort zu reden, mit beiden Händen und wütend wie eine Löwin am Eisengitter. Die Stangen hielten. Da holte sie aus einem Winkel ihrer Zelle einen großen Stein, der ihr zum Kopfkissen diente, und schleuderte ihn mit solcher Heftigkeit, daß eine Stange, Funken sprühend, zerbrach. Ein zweiter Wurf stieß das eiserne Kreuz, das die Luke verrammelte, gänzlich ein. Da zerbrach und entfernte sie mit beiden Händen die verrosteten Stäbe des Gitters. Die Hände einer Frau besitzen in gewissen Augenblicken übernatürliche Kräfte.
Als so der Durchgang gebahnt war, und dies geschah in weniger als einer Minute, faßte sie das Mädchen mitten um den Leib und zog es in ihre Zelle. „Komm“, sprach sie, „ich will dich aus dem Abgrund retten.“
Als ihre Tochter in ihrer Zelle stand, legte sie sie sanft auf den Boden, nahm sie dann wieder auf, trug sie in ihren Armen, als wäre sie noch die kleine Agnes, und lief in ihrer engen Zelle wie berauscht, schreiend, weinend und lachend, umher.
„Meine Tochter! Meine Tochter!“ sprach sie. „Ich habe meine Tochter! Der liebe Gott gab sie mir zurück! Kommt alle! Wollt ihr sehen, daß ich meine Tochter habe? Herr Jesus, wie schön sie ist! Guter Gott, fünfzehn Jahre ließest du mich warten, um sie
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